Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Rezeptionsgeschichte von Schalamows Hauptwerk. In der Sowjetunion konnten die aus sechs Zyklen bestehenden »Erzählungen aus Kolyma«, an denen er zwischen 1954 und den 70er Jahren arbeitete, erst in der Perestrojka-Zeit Ende der 80 er Jahre vollständig erscheinen. Ende der 60 er Jahre kursierten jedoch einige Erzählungen in den internen illegalen Kommunikationskreisen des sowjetischen Samizdat, gelangten in den Westen und wurden in Zeitschriften der russischen Emigration publiziert. Zugleich erschienen erste Sammelbände mit Übersetzungen ins Deutsche und Englische. Im Februar 1972 druckte die sowjetische L ITERATURNAJA G ASETA einen von Schalamow unterzeichneten Brief, in dem er sich gegen diese von ihm nicht autorisierten Publikationen in der russischen Emigrantenpresse verwahrte und dagegen protestierte, der Welt als »antisowjetischer Untergrundautor« präsentiert zu werden. Ein wichtiger Polemikpunkt war für Schalamow die Tatsache, daß Erzählungen aus dem Zusammenhang herausgerissen und einzeln publiziert wurden. Die innere Komposition der Erzählzyklen und die Intention des Autors seien dadurch entstellt worden. In einer postum veröffentlichten Tagebuchnotiz (ebenfalls vom Februar 1972) bekräftigte Schalamow seine Position nachdrücklich.
In Kreisen der Dissidenz wurde der Brief als Zeichen der Schwäche gewertet. Andererseits wurde dem Verfasser zugute gehalten, er habe unter großem Druck gestanden und mit Hilfe gängiger Floskeln der politischen Propagandasprache seine Loyalität gegenüber der Sowjetmacht unter Beweis stellen wollen. Der Druck war in der Tat enorm. Schalamow wußte, daß die Publikationen in der westlichen Presse ihm den Weg zu weiteren Veröffentlichungen innerhalb der Sowjetunion versperrten. Denn obgleich die »Erzählungen aus Kolyma« verboten blieben, konnten doch zumindest einige Gedichtbände erscheinen, in denen Terror und Gewalt nicht ebenso direkt thematisiert werden wie in den Prosatexten. Und dabei ging es Schalamow nicht nur um öffentliche Anerkennung, sondern ebenso ums nackte Überleben, denn die niedrige Rente reichte kaum zum Leben.
Der Brief vertiefte auch die zu diesem Zeitpunkt bereits bestehenden Spannungen zwischen Warlam Schalamow und Alexander Solschenizyn, dem bekanntesten Autor der russischen literarischen Dissidenz, dessen »künstlerische Untersuchung« (Solschenizyn) des »Archipel GULag« zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen war. Noch in den späten 90 er Jahren, lange nach Schalamows Tod, wiederholte Solschenizyn seinen Unmut über dessen damalige Äußerungen. Es ging insbesondere um einen Satz, der nicht nur bei Solschenizyn das größte Befremden bzw die höchste Entrüstung hervorrief und in dem es hieß, die Problematik der »Erzählungen aus Kolyma« sei nach dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) längst vom Leben überholt worden. Solschenizyns Urteil war unmißverständlich — Schalamow habe sich öffentlich von der Sache losgesagt, der er sein ganzes Leben widmete.
Die Differenzen zwischen Solschenizyn und Schalamow sind Indiz für ein fundamentales Problem, das zunächst unausgesprochen blieb. Der Brief eröffnet einen Zugang, um zu verstehen, von welcher Warte aus Warlam Schalamow über das 20. Jahrhundert schrieb und urteilte. Der Protest gegen eine politische Instrumentalisierung seiner Person und seiner literarischen Texte war aufrichtig. Die Logik seiner Argumentation führt zu einer Frage, die er für die Schlüsselfrage des 20. Jahrhunderts überhaupt hielt: Wie konnten Menschen, die über Generationen in den Traditionen der humanistischen Literatur des 19. Jahrhunderts erzogen worden waren, Auschwitz, Kolyma hervorbringen? Schalamows scharfe Abrechnung mit dem Humanismus des 19. Jahrhunderts hat eine ethische und eine ästhetische Seite. Die Kompromißlosigkeit seiner Position mag erstaunen, war er doch selber in den ethischen Traditionen der russischen Intelligenzija erzogen worden.
Geboren am 18. Juni (nach dem alten russischen Kalender, heute der 1. Juli) 1907 in der nordrussischen Stadt Wologda, wuchs Warlam Schalamow in einer Stadt auf, die im zaristischen Rußland seit Jahrhunderten ein traditioneller Verbannungsort war. Vom altgläubigen Protopopen Awwakum im 17. Jahrhundert bis zum Sozialrevolutionär Boris Sawinkow, dem Marxisten und späteren Religionsphilosophen Nikolai Berdjajew oder dem ersten sowjetischen Volksbildungskommissar Anatoli Lunatscharski gab es kaum einen namhaften Vertreter des russischen
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