Durch den Wind
er.
»Ach so«, sagte sie und wendete ihren Kopf wieder.
Er drückte ihre Hand noch einmal, diesmal etwas fester, verbindlicher. Sie gab seinem Druck nach, und es schmerzte, auch wenn sich das natürlich nicht beweisen lassen würde. Genau wie alles andere.
Wenn er gewusst hätte, dass er sie verletzte mit seinen Berührungen, dann wäre er bestürzt gewesen. Alles, was er tat, meinte er gut.
Hier in der Psychiatrie hatte man ihr erklärt, dass sie zu viele Medikamente genommen habe. Aber das konnte nicht sein, das hätte sie Felix nie angetan, niemals. Wie waren dann aber diese ganzen Medikamente in ihren Magen gekommen, und warum war sie bewusstlos gewesen, und wieso lag sie jetzt hier? Ihr Kopf dröhnte.
»Kannst du die Blumen bitte auf den Gang stellen?« fragte sie.
Er stellte die Vase auf den Gang und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Er sah gut aus, hatte einen weichen grauen Pullover an und rieb sich seine leicht gebräunten Finger. Wenn sie etwas anders gelagert wäre, dann hätte sie heute vielleicht sogar ein zweites Kind von ihm bekommen; er war ein Mann, der mehrere Kinder verdient hatte, für den schon immer klar gewesen war, dass er mehrere Kinder haben würde und eine schöne, komplizierte Frau. Er liebte schöne, komplizierte Frauen. Das letzte große Abenteuer hatte er sie einmal genannt und gedacht, sie hätte das nicht gehört.
Es klopfte, die Tür ging auf, es war die rothaarige Krankenschwester, die ihr ein kleines Schälchen mit Pillen brachte. Sieben verschiedene Pillen, kleine und große, runde und ovale, mit kleinen Kügelchen gefüllte und pulvrige in allen möglichen Farben. Sie nahm, unter den aufmunternden Blicken der Krankenschwester, eine nach der anderen in den Mund und schluckte sie herunter. Die Krankenschwester verabschiedete sich von ihr und schenkte Eduard ein Augenzwinkern. Die Kellnerin in dem Café – genau der gleiche Typ, immer die gleichen roten Feen, diese hübschen kleinen Giftwolken.
»Kannst du Alison sagen, dass sie mich anruft?« fragte sie.
»Ist sie nicht verreist?« fragte er mit einer anderen Stimmlage.
»Ja«, sagte sie.
»Hast du eine Nummer?« fragte er.
»In Japan?«
»In Japan«, wiederholte er.
»Nein, deswegen ...«, sagte sie.
»Wie soll ich sie dann ...?« fragte er.
»Lass es«, sagte sie, und ein zweites Mal zeigte sich das Zerrbild ihrer Verachtung, die sich jetzt ganz deutlich positiv anfühlte, so als wäre sie ein berechtigtes, lebenswichtiges Gefühl.
Übelkeit stieg in ihr auf. Sie legte ihre Hand auf den Bauch. Es war ihr, als könnte sie die Pillen noch orten, als lägen sie noch unverdaut in ihrem Magen – schwer und bunt wie kleine Murmeln. Kleine bunte Murmeln. Vielleicht würde sie es schaffen, sie einfach unverdaut wieder auszuscheiden: hellgrün, dunkelgrün, lindgrün, rosa, veilchenblau, hellgelb und weiß.
Die Blumen.
Eduard.
Eduard hatte ihr Blumen geschenkt, die genau die Farben der Pillen hatten, mit denen sie sie hier festhielten. Und was bedeutete das? Bedeutete es überhaupt etwas, oder war es wieder nur ein Zufall?
Die Übelkeit verflog, so als könnte ihr Körper nichts und niemandem mehr Halt bieten, nicht einmal einer leichten Übelkeit. Die braunen Schuhe.
Schnell etwas sagen: »Hat Felix gut geschlafen?«
»Es geht so«, sagte er kurz angebunden.
»Es geht so?« wiederholte sie – was sollte das denn heißen?
»Ich muss ...«, antwortete er plötzlich unruhig, so als wäre ihm etwas eingefallen, »ich muss mal kurz raus – mit dem Arzt sprechen.«
Dann gab er ihr einen Kuss auf die Stirn und folgte der roten Fee, bevor sie sich aus dem Staub machen konnte.
»Wünsch dir was«, rief sie ihm nach.
Sie würde gleich mit Alison sprechen müssen, bevor er wieder zurückkam. Alison würde sie hier herausholen müssen, sie konnte unmöglich länger hierbleiben, und sie konnte unmöglich zu Eduard zurück.
Im Hausflur hatte Alison sich noch zugesehen, wie sie mit einem Mann in seine Wohnung ging, den sie kaum kannte. Jetzt stand die Wohnungstür weit offen und gab den Blick in einen Raum mit riesiger Fensterfront frei, der direkt in die Stadt überzugehen schien. Kein Halt von hier bis zum Horizont, nur glitzernde Häuser und ein sich schwärzender Himmel. Atemberaubend. Schön. Der offene Raum.
Yoshihiro bedeutete ihr, zuerst einzutreten, und seine Geste hatte etwas von einem Geschenk, das (wenn sie es denn annehmen würde) einer Entscheidung gleichkäme.
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