Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
Vom Netzwerk:
Seine Stimme klang so niedergeschlagen, wie sie sie nie gehört hatte. Es musste die Entfernung sein, die seine Stimme so hinabzog, jeden anderen Gedankenfetzen verscheuchte sie sofort.
    »Ist was passiert?« fragte sie zögernd.
    »Wo bist du?« fragte er.
    »In Japan. Du klingst so ...«
    »Siri ...«, begann er, dann erstarb seine Stimme. Es war nicht die Entfernung.
    »Was?«
    »Sie liegt im Krankenhaus.«
    »Was?«
    »Ich bin gerade dort. Sie ist fast ...«
    »Nein«, rief sie, dann leise: »Nein.«
    »Sie kommt durch, Bernhardt hat sie gefunden.«
    »Bernhardt?«
    »Ihr Großvater.«
    Schweigen.
    »Sie sagt, sie wollte nicht sterben.«
    »Aber ...«
    »Es war knapp.«
    Pause.
    »Warum?«
    Schweigen am anderen Ende der Leitung.
    »Warum«, wiederholte Eduard.
    Warum?
    »Sie fragt nach dir«, sagte Eduard.
    »Oh, Gott, Eduard, das tut mir so leid.«
    Eduard sagte: »Ist schon gut.«
    »Kann man sie anrufen?« fragte sie.
    »Ja, sie fragt nach dir.«
    Eduard gab ihr eine Nummer. Bevor sie auflegte, wollte sie noch nach Felix fragen, aber sie wusste nicht, wie. Sein Name wäre ihr in der Kehle steckengeblieben.
    »Was?« fragte er dann. »Im Kindergarten.«
    Sie hatte nichts gefragt. Im Kindergarten. Sie sagte »Gott sei Dank«, als sei der Kindergarten das Heilige Land. Dann legte sie auf und ließ sich zurück auf ihr Bett fallen.
     
    Sie konnte jede einzelne Latte des Lattenrosts durch die Matratze spüren. Eine Latte drückte in ihren Nacken, eine gegen ihre Brustwirbel und eine auf das Steißbein. Als läge sie auf einer Pritsche. Irgendwie hatte Eduard so geklungen, als hätte Siri sich das Leben genommen, aber so etwas würde sie nie tun, niemals. Schon allein wegen Felix. Sie schaute auf den Rauchmelder an der Decke und steckte sich eine Zigarette an.
    Nach einer Weile richtete sie sich wieder auf und wählte die Nummer, die Eduard ihr gegeben hatte. Siri meldete sich mit einer leisen, klaren Stimme; sie meldete sich mit ihrem Vornamen, ließ den Namen weg, den sie von Eduard übernommen hatte.
    »Siri, mein Gott, was ...?«
    »Alison, wie gut, dass du anrufst«, antwortete sie.
    »Wie ...?«
    »Du musst mir helfen«, sagte Siri drängend, gehetzt und so leise, dass sie es fast nicht hören konnte.
    »Natürlich, wie ...?«
    »Die Blumen, die Blumen waren von Eduard. Die Blumen und die Pillen hatten die gleichen Farben. Genau die gleichen. Ich war es nicht, hörst du? Ich habe mich nicht umgebracht.Ich weiß nicht, was passiert ist, aber die Blumen, verstehst du? Bitte!«
    »Was? Was meinst ...?«
    »Ich habe es nicht getan, hörst du, du musst mir glauben, ich habe es nicht getan«, ihre Stimme überschlug sich fast, so leise sie auch war, »ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat, aber er hat sich heute Morgen Schuhe gekauft. Zwischendurch hat er sich Schuhe gekauft.«
    »Aber ...«, versuchte sie.
    »Nein, ich weiß auch nicht, aber ich weiß, ich war es nicht. In meinem Magen wurden lauter Medikamente gefunden. Ich kann mich nicht erinnern, so viele Medikamente genommen zu haben. Ich war krank, ich habe die üblichen Pillen genommen, Antibiotika, Kopfwehtabletten, Schlaftabletten, und irgendwas Neues gegen die Angst, das Eduard mir mitgebracht hat. Sie meinten, die Kombination hätte fast ausgereicht ...«
    Es raschelte in der Leitung.
    »Siri?«
    »Ich muss aufhören, es kommt jemand rein, gib mir deine Nummer.«
    Gerade konnte sie ihr noch den Namen ihres Hotels sagen, da klickte es, und die Leitung wurde getrennt.
     
    Alison drückte die Zigarette aus. Sie rieb sich die Augen. Das alles passierte wirklich. Siri hatte sich nicht umgebracht. Ein Unfall? Wusste Eduard mehr, als er zugab?

 
    Es war schon dunkel draußen, als Yoko wieder erwachte. Ihre linke Seite schmerzte ein wenig. Sie musste neben ihrer Mutter eingeschlafen sein. Sie sah den Nachttisch, den halboffenen Schrank, den alten Feiertagskimono. Auf der anderen Seite, auf der Seite, auf der Vater geschlafen hatte, das Bücherregal mit einer alten, ledergebundenen Goethe-Gesamtausgabe und einigen Bänden Schiller und Lessing.
    Es war still im Haus. Sie ging durch den Flur an der Küche vorbei bis zum Wohnzimmer. Wieder stieg ihr der vertraute Geruch in die Nase, der ihr gleich beim Eintreten aufgefallen war, dieser Geruch, dem etwas fehlte – etwas Rauchiges, Staubiges. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. Das Haus hüllte sich weiter in Schweigen. Es war ein japanisches Haus, dachte sie, auch wenn es

Weitere Kostenlose Bücher