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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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hier kiloweise deutsche Bücher gab, war es ein japanisches Haus. Sie musste fast lachen: In Japan pflegten selbst die Häuser ihre geheimnisvolle Seite. Sie schaute die Treppe hinab, auf der sie vorhin ihren Bruder wiedergesehen hatte. Wo war er nur, und wo waren ihre Mutter und ihre Schwägerin?
    Sie fasste all ihren Mut zusammen und schaute ins Wohnzimmer, und für einen kurzen Augenblick meinte sie ihren Vater dort sitzen zu sehen. Aber gleich war dieses Bild wieder weg, und das Wohnzimmer lag genauso leer und geheimnisträchtig da wie die anderen Zimmer. Wo waren sie nur alle hingegangen? Und wieso hatten sie sie hier zurückgelassen? Sie konnten doch nicht einfach weg sein. Irgendjemand musste sie doch bewachen. Ihr Blick fiel erneut auf das Bild des Kranichs ander Wand des Wohnzimmers. Sie trat näher heran. Es war kein Rollbild, aber es hing trotzdem einfach so an der Wand, ohne Rahmen, ohne Glas. Der Kranich sollte fliegen können, nicht eingesperrt sein hinter Glas.
    Das Papier war schon leicht vergilbt. Ihre Nase stieß fast an, so nahe beugte sie sich vor. Und als sie so dicht vor dem Bild stand, stieg ihr von dort aus der Geruch entgegen, der im ganzen Haus fehlte. Diese Mischung aus Staub und Rauch.
    Sie wich zurück.
    Der Geruch war in dem Bild gefangen. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Sie rührte sich nicht von der Stelle.
    Dann näherte sie sich dem Bild noch einmal und sah, dass das Weiß des Bildes ganz und gar von Fingerabdrücken übersät war, so als hätte jemand jeden Zentimeter davon abgetastet. Sie ging ein paar Schritte zurück und sah die Fingerkuppen ihres Vaters vor sich, die von den vielen alten Büchern ganz grau und staubig geworden waren.
     
    Das war es.
     
    Dieser Geruch fehlte. Der Geruch der Fingerkuppen ihres Vaters.
     
    Auf einmal hörte sie Schritte von draußen. Die Haustür ging auf, jemand streifte seine Schuhe ab, zögerte etwas, kam dann die Treppe herauf.
    Sie legte ihre Finger auf den fiederigen Körper des Kranichs. Ihre Schwägerin kam ins Zimmer, blieb stehen und schaute sie unverwandt an. Ihr stockte der Atem, sie drückte ihre Finger gegen das Papier.
    »Du hast mein Leben zerstört«, sagte ihre Schwägerin, »du hast es einfach zerstört.«
    Yoko löste ihre Finger wieder etwas, um die Federn nicht zu beschädigen, um den Vogel nicht zu verletzen.
    »Du hast alles zerstört«, fuhr sie fort, ohne eine Miene zu verziehen.
    Die Worte bauten sich vor ihr auf.
    »Glaubt Mutter, dass er noch lebt?« fragte Yoko und löste ihre Hand von dem Bild.
    »Ha«, sagte ihre Schwägerin mit einem Lachen, das sie noch nie an ihr gesehen hatte. »Es war mir immer klar, dass du dachtest, auch ihn auf dem Gewissen zu haben. Du hast dir immer schon eingebildet, sein Tod zu sein, sein Tod und sein Leben. Aber so war es nicht. Du warst nicht sein Tod, weder sein Tod noch sein Leben. Was glaubst du eigentlich? Es dreht sich nicht alles um dich.«
    »Glaubt sie, dass er noch lebt?« wiederholte Yoko.
    »So einfach ist das nicht«, sagte ihre Schwägerin und lachte wieder dieses Lachen, das sie nicht kannte. »Frag sie. Deine Mutter ist der einzige Mensch, den du nicht getäuscht hast, deine Mutter weiß, was passiert ist, sie sieht klar, sie denkt nicht nur an sich. Du täuschst alle, aber sie nicht.«
    Täuschen? Etwas in ihr verband sich mit diesem Wort, und etwas anderes in ihr wusste überhaupt nicht, wovon ihre Schwägerin sprach.
    »Meine Mutter«, flüsterte sie und nickte.
    Ihre Schwägerin blieb stehen, schaute sie an und schien auf etwas zu warten, auf eine Reaktion von ihr.
    Yoko blieb stehen und konnte zusehen, wie sich ein großes, weißes Loch in ihr ausbreitete. Das Gesicht ihrer Schwägerin glättete sich wieder, das Lachen verschwand aus ihren Gesichtszügen; es zog ab, wie es aufgezogen war.
    Und weiß und leer, wie es in ihr war, machte sie eine tiefe Verbeugung.

5    Alles andere war früher

 
    Die pflaumenfarbenen Blumen in der Lobby waren plötzlich gelb, und der Page trug eine andere Uniform und einen Schnauzbart, der ihm selbst suspekt vorkam, denn er schielte auf die Spitzen links und rechts neben seinen Nasenflügeln, als fielen sie jede Sekunde ab. Gelb also. Der Taxifahrer verstand offenbar Englisch, denn er nickte, als ihm Alison die Adresse der Deutschen Botschaft nannte, und fuhr los. Der Taxifahrer nahm ihre Geldscheine mit seinen weißen Handschuhen und legte kurz das Kinn auf seine Brust. Das war die Minimalversion einer Verbeugung

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