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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Stasiuks Neun heraus und blätterte auf die zweite Seite. Auch da Schnee. Draußen fuhr ein Räumfahrzeug vorbei und hobelte einen Schneespan aus dem bläulichen Asphalt ... Er empfand Bedauern, die Art von Trauer, die eine Erinnerung begleitet, die man sich nicht mehr vollständig ins Gedächtnis rufen kann, eine Erinnerung, die nur noch als Spur existiert. Das hatte sie nicht für die weißen Texte kopiert, sie wäre nie im Traum darauf gekommen, bei Stasiuk nach Weiß zu suchen; nach Sex, Brutalität, Saufexzessen, verloren geglaubten Landschaften und größter Zärtlichkeit ja, aber nicht nach Weiß. Hinter ihr hupte es, sie legte das Buch aufgeklappt auf den Beifahrersitz und fuhr los. Sie würde die Schlittenspur nicht bedauern, kein bisschen, sie würde so stolz sein wie noch nie, eine Spur hinterlassen zu haben.
    An der nächsten Ampel klingelte ihr Telefon. Sie stand vor dem Kreisverkehr am Straußberger Platz. Der Springbrunnen war trocken, die Häuser hellgrau und Bregović zwischen zweiLiedern. Sie kramte ihr Telefon aus der Tasche mit den Büchern und Schals, hob ab und hörte Toms Stimme: »Kannst du bis morgen warten?«
    »Was?« fragte sie heiser.
    »Kannst du bis morgen warten – mit der Reise?«
    Die Ampel schaltete auf Grün, sie fuhr los. Wohin? Sie wechselte auf die Innenspur.
    »Vorhin hatte ich es versucht, aber du ... ich habe heute Abend mein Konzert, morgen«, sagte er.
    Sie umrundete den trockenen Springbrunnen. Jetzt spielte ein Lied, das weder Hochzeit noch Begräbnis sein konnte. Sie drehte leiser.
    »Ich bin schon am Straußberger Platz.«
    Pause.
    »Manchmal bist du einfach nur zu schnell.«
    Pause.
    Die Astrologiesendung an dem Tag, an dem sie Tom kennengelernt hatte. Das Steuer und das Gaspedal, immer Vollgas und immer nur die eigene Spur. Bisher hatte sie immer gedacht, mit Tom wäre alles anders gewesen als zuvor. Zum dritten Mal umrundete sie nun den trockenen Springbrunnen.
    »Ich ...« Sie würde irgendwie von diesem Kreisverkehr hier herunterkommen müssen, ohne mehreren Autos den Weg abzuschneiden. Nur wie?
    »Ja?« fragte Tom noch einmal, und dann schloss sie die Augen und zog das Lenkrad nach rechts. Hinter ihr ein Hupkonzert, sie zog weiter nach rechts, bis sie wieder auf der Frankfurter Allee war, in Richtung Fernsehturm. Zurück. Bregović verstummte. Stasiuk lag aufgeklappt auf dem Beifahrersitz. Er empfand Bedauern, die Art von Trauer, die eine Erinnerung begleitet, die man sich nicht mehr vollständig ins Gedächtnis rufen kann, eine Erinnerung, die nur noch als Spur existiert. Auf einmalbedeutete dieser Satz etwas für ihr Leben. Im Rückspiegel der Straußberger Platz. Keine Kneipe, kein trauriges Lied, keine Reise. Der aufgeklappte Stasiuk auf ihrem Beifahrersitz konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
    »Fritz?« fragte Tom. Sie fuhr rechts ran, hielt direkt unter dem großen Plakat des Kinos International und schloss die Augen.
    »Ja?«
    »Ich weiß, dass ich so was nicht am Telefon fragen sollte, aber ...«
    Sie schwieg und zog langsam einen Schal aus der Tasche, den dicksten, wärmsten.
    »Sollen wir ein ...? Ich meine, sollen wir eine ...?«
    Er hatte es nicht gesagt, aber sie hatte es trotzdem gehört.
    »Eine Tochter«, sagte sie.
    »Eine Tochter«, sagte er.
    Sie öffnete die Augen, schaute auf das Kinoplakat, auf dem neben Brad Pitts und Cate Blanchetts umwölkten Blicken das Wort BABEL stand, dann sank der Hörer in ihren Schoß. Eine Tochter.
    Eigentlich hätte das einer der schönsten Momente ihres Lebens sein können. Aber mit den schönsten Momenten in ihrem Leben war das so eine Sache.
    Toms Stimme kam leise und unheimlich aus dem Hörer, und es klang so, als ob er es auf ihrem Schoß immer wiederholen würde: Eine Tochter, eine Tochter, eine Tochter. Und mit jeder Wiederholung kam es ihr unglaubwürdiger vor, dass es geschehen war oder dass es geschehen würde. Sie nahm den Hörer wieder auf: »Ich fahre zurück.«
    »Was ist?« fragte er.
    »Ich weiß nicht genau. Aber ich bin schon umgedreht.«
    »Fritz«, sagte er noch einmal zögernd.
    Sie murmelte etwas wie »Ja«.
    »Kommst du zum Konzert?«
    Sie murmelte wieder etwas, und er sagte: »Danke.«
     
    Sie legte auf. Natürlich war sie umgedreht, natürlich würde sie auf das Konzert gehen, natürlich wollte sie eine Tochter mit ihm haben. Aber wenn es real wurde ... Vielleicht war sie das nur einfach nicht gewöhnt, dass er auf sie zuging, vielleicht schlug sie das sofort in die

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