Durch den Wind
Flucht, vielleicht mochte sie das auch gar nicht so gerne, vielleicht mochte sie das, was sie sich immer gewünscht hatte, gar nicht so gerne. Vielleicht war sie viel besser im Wünschen als im Leben.
Sie startete den Motor und fuhr los. BABEL im Rückspiegel, Bregović im stillen Abseits, Stasiuk auf dem Beifahrersitz, der immer noch grinste, denn er hatte es von Anfang an gewusst: Sie war ein Papiertiger.
Es klopfte, und Siri antwortete nicht, auch wenn sie schon am Klopfen gehört hatte, dass es keine der Krankenschwestern sein konnte. Nachdem die Tür aufgegangen war, hörte sie seine Schritte, hatte das Bild seiner polierten schwarzen Schuhe vor Augen. Es war sein erster Besuch, oder besser gesagt: der erste, den sie bei Bewusstsein erlebte. Man hatte ihr gesagt, er sei schon einmal da gewesen, lange sei er da gewesen, als sie noch bewusstlos gelegen hatte, und sie hätte einen sehr fürsorglichen Ehemann. Als sie die Augen aufschlug, war er nicht da.
Die Schritte in seinen polierten schwarzen Schuhen wurden langsamer, gleich würde er an ihrem Bett stehen. Sie bewegte ihren Kopf nicht zur Seite, keinen Zentimeter, sie zuckte nicht einmal. Sie konnte nirgends in sich einen Impuls finden, der sie reagieren ließ. Das Treffen mit ihm ängstigte sie nicht. Er blieb vor ihrem Bett stehen, murmelte etwas und verstummte dann. Sie roch Lilien. Seine Schuhe waren braun, nicht schwarz, vielleicht hatte er Schuhe gekauft, während sie hier wieder zu sich gekommen war, Schuhe und Blumen. Vielleicht sollte sie sich jetzt einmal drehen, aufrichten, irgendeine Geste machen. Aber sie richtete sich nicht auf. Es war ihr gleichgültig, was für ein Bild sie abgab. Die Tabletten hatten ganze Arbeit geleistet.
Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass er einen bunten Strauß mitgebracht hatte, so als hätte sie ein Kind zur Welt gebracht oder irgendetwas anderes geleistet, was es zu feiern galt. Die Blumen verdeckten Teile seines Gesichts. Sie sahseine alte Uhr am linken Arm, das braune Lederarmband und sein schönes, männliches Handgelenk. Wenn er gewusst hätte, dass er in der Lage war, sie zu ängstigen, wäre er zutiefst bestürzt gewesen. Er hatte diesen Gedanken mit Sicherheit noch nie gedacht. Er war niemand, der andere ängstigte, schon gar nicht seine Frau.
Jetzt wendete sie den Hals langsam, wie in Zeitlupe: Die Blumen hatten alle möglichen Farben: rosa, veilchenblau, hellgelb, weiß, und die Blätter waren von unterschiedlichem Grün. Die Kombination der Farben erinnerte sie an etwas.
In seinem Ausdruck konnte sie weder Angst noch Schock, noch Erleichterung erkennen, sondern irgendeine Emotion, die blasser war, flüchtiger, mit etwas anderem verdünnt, was sie nicht kannte. Was war das hier für ein absurdes Theater, und wo war Felix?
Er drückte ihr einmal kurz die Hand und stellte dann den Blumenstrauß in eine Vase. Er hatte immer noch nichts gesagt, er, der sonst immer etwas sagte, immer an tröstende Worte und klärende Gespräche glaubte, er hatte immer noch nichts gesagt. Vielleicht ängstigte sie ihn jetzt, das konnte schon sein.
Wort- und tonlos rückte er den Stuhl neben ihr Bett und setzte sich, seinen Blick auf den Boden gerichtet. Er benahm sich so, als hätte er all die Beruhigungsmittel eingenommen, die sie ihr verabreicht hatten. Wenn sie etwas anders gelagert gewesen wäre, dann hätte sie ihm sein Schweigen hoch angerechnet, dann hätte sein Schweigen ihr Hoffnung gegeben, dass sie vielleicht doch die Chance hatten, miteinander behutsam umzugehen.
Doch die Blumen rochen stark und nahmen das ganze Zimmer für sich ein, so wie Lilien das tun, wenn man sie gewähren lässt. Sie mochte weder den Geruch noch die Farben, und sie konnte sich einfach nicht daran erinnern, wo sie solcheFarben schon einmal gesehen hatte. Genauso wenig wie an die Stunden vor dem Krankenhaus. Als gäbe es nur noch Geheimnisse um sie herum, die kaum gehütet und trotzdem nicht aufzudecken waren.
Schnell sprechen: »Und Felix?«
Er zuckte kurz zusammen, dann setzte er sich aufrechter hin und räusperte sich: »Im Kindergarten.«
»Gut«, sagte sie, »du sagst ihm nichts, bitte?«
»Blinddarm«, sagte er.
»Blinddarm«, sagte sie, »und die Narbe? Wird er die nicht ...?«
»Minimal invasiv«, sagte er.
»Minimal invasiv«, sagte sie und wunderte sich, wie merkwürdig sich ihre Verachtung durch die Schicht der Medikamente anfühlte, fast als wäre sie etwas Positives.
»Macht man jetzt immer so«, sagte
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