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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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durcheinandersprachen, in Japanisch, Englisch und Spanisch. Erst jetzt fiel ihr auf, dass in dieser Bar fast so viele Ausländer wie Japaner saßen. Sie hatte fast vergessen, dass sie in Tokio war. Konnte es wahr sein, war sie erst heute angekommen? Ein Tag, ein einziger Tag?
    Da krachte auf der anderen Seite des Cafés plötzlich ein Stuhl zu Boden, und Yoshihiros Freundin stürmte auf sie zu. Ihr schoss das Blut in den Kopf, sie umklammerte ihren Löffel und hielt ihn senkrecht in die Höhe.
    »Glauben Sie eigentlich, ich kapiere gar nichts?« schrie die Frau mit den gelblichen Augäpfeln auf Englisch. »Sie brauchen nicht so unschuldig zu tun, Sie rote Hexe! Ich durchschaue Ihr Spiel! Seit Wochen geht das schon, seit Wochen!«
    Die Frau drehte sich um und änderte schlagartig ihr Tempo. Langsam und gebeugten Hauptes ging sie aus der Tür. Alison wollte ihr nachlaufen und sagen, dass es gar nicht so schlimm würde, wie sie es sich jetzt ausmalte, aber da stand schon Yoshihiro vor ihr und bat sie, ihn nach Hause zu begleiten. Sie stand auf und wunderte sich – über alles.
     
    Im Taxi murmelte er: »Habe ich mich wirklich so verändert?«
    Sie antwortete nicht, weil sie sicher war, dass er nicht mit ihr sprach, sondern Sätze des Streits mit seiner Freundin wiederholte.
    »Keine Antwort?« murmelte er dann. Sie schwieg und schaute aus dem Fenster, um ihn nicht zu beschämen.
    Die Fahrt dauerte lange, Yoshihiros Wohnung lag anscheinend am anderen Ende von Tokio. Nach einer Weile lichtete sich die Stimmung etwas, er lächelte sie an und zeigte ihr durch die Fensterscheibe einen Tempel. Draußen wurde es langsam dunkler, und sie fasste den Mut zu fragen: »Haben Sie mir das Päckchen ...?« und er antwortete: »Nein.« Er sagte nicht: »Welches Päckchen?«
    Alison legte ihren Kopf in den Nacken und dachte, dass sich alles wieder aufklären würde, dass es vielleicht doch eine Erklärung gäbe für das Päckchen, für den Barkeeper, für ihr Leben.

 
    Friederike hatte Stasiuk im Gepäck, alle Bücher von Andrzej Stasiuk, die sie im Bücherregal gefunden hatte, und drei dicke Schals, die sie sich um ihren Bauch wickeln würde, falls es ungemütlich werden sollte. Wenn sie Stasiuks Bücher las, kam sie sich immer so vor, als betröge sie die ganze Welt mit ihm – so anziehend war er, und so stark fesselte er ihre Einbildungskraft. Um vier Uhr früh hebt die Nacht langsam ihren schwarzen Hintern, steht vollgefressen vom Tisch auf und geht schlafen. So eine Sprache brauchte sie jetzt, so eine Reise und so einen Kerl.
    Im Auto hörte sie Hochzeits- und Begräbnismusik von Goran Bregovi ć . Erst wenn sie in Polen angekommen war, würde sie wieder halten. Dann würde sie sich in eine der Bars hinter Dukla setzen, die Stasiuk beschrieben hatte, und dem Wirt erzählen, dass sie schwanger war, dass sie eine Tochter bekam und der Vater ein Nichtsnutz sei, ein Versager, jemand, der sich aus der Verantwortung stahl, der sie auf dem Küchentisch in ihrem Laden geschwängert hatte, ohne Sinn und Verstand. Und dann würde sie ihn bitten, ein Lied für ihre Tochter zu singen, und er würde ein Lied singen, ein trauriges Lied, das ein bisschen so klang, als ob er weinte, und sie würden einen Schnaps auf ihre Tochter trinken, und dann würde sie wieder zurückfahren und ihren Laden so in Schwung bringen, dass er sie und ihre Tochter ernährte. Und ihre Promotion zu Ende schreiben, in sechs Monaten, bis ihr Bauch nicht mehr zwischen sie und ihren Laptop passte. Als Erstes würde sie über Siri Hustvedts Was ich liebte schreiben, über Mark, den abgründigsten Lügner, der ihr je in einem Buch begegnet war.Den Laden würde sie behalten, und dann würde sie jemanden anstellen, der ihn machen könnte, wenn ihr Kind die Masern hatte oder Geburtstag. Und sie würde sich nicht mehr bei Tom melden, bis sie da war, ihre Tochter. Da wäre es wieder Winter, so wie jetzt, nur früher, der erste Schnee würde fallen, so weiß wie nie zuvor.
    Bregovićs Trompeten spielten eine Fanfare, und genauso erhaben fühlten sich ihre Pläne an. Im nächsten Winter wäre alles neu, ihr Leben und ihre Arbeit, der Schnee. Eine herrliche weiße Fläche, durch die sie zwei Schlittenspuren ziehen würde, mit ihrer eingepackten kleinen Tochter im Schlepp.
     
    Der Verkehr stockte. Ein paar Autos waren über die Ampel gefahren, doch als sie an der Reihe war, schaltete es wieder um, und sie musste halten. Sie kannte diese Ampel, sie war lange rot. Sie holte

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