Durch den Wind
Sie zögerte nicht. Sie konnte es selbst kaum glauben, aber sie zögerte tatsächlich keinen Augenblick, sie ging einfach durch die Tür, durch den Flur, durch das große Zimmer mit der Panoramascheibe. Sie spürte jeden Schritt und streckte sich in sich hinein. Sie legte ihre beiden Handinnenflächen an die Glasscheibe und schaute auf dieses Bild der Welt, und ihr war, als stünde sie mit geschlossenen Augen da, so inwendig war das Erleben, und plötzlich dachte sie: Das ist einer der Momente, an dem man sein Leben in der Hand hatte.
Sie presste nun ihren ganzen Körper gegen die Scheibe und hörte, wie Yoshihiro hinter sie trat. Sie drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an das Glas. Er stand einen halben Meter von ihr entfernt. Die Kühle der Scheibe drang zu ihr durch. Sie schaute an sich herab: nichts verrutscht, kein Blusenzipfel zu sehen. Ihre Kleider saßen wie angegossen, sie bewegte ihren Rücken an der Scheibe entlang, wunderte sich ein wenig und lächelte.
Er machte einen Schritt auf sie zu und begann mit dem Finger die Konturen ihres Körpers auf der Scheibe nachzuzeichnen. Zuerst ihr linkes Ohr, dann ihre Haarlinie, ihr rechtes Ohr, ihren Hals, ihre Schulter, Arm, Hüfte, rechtes Bein. Er ging in die Knie, fuhr die Innenseite des rechten Beins herauf, hielt kurz inne und wechselte die Seiten, fuhr das linke Innenbein wieder herunter und die Außenseite herauf, bis er wieder da angekommen war, wo er angefangen hatte.
Yoshihiro trat wieder zurück und schaute ihr noch einmal in die Augen, diesmal aber so, als hätte er etwas entdeckt; gleichzeitig blieb sein Blick diskret, rätselhaft, sanft. Er atmete schwerer, dann strich er ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr und ging in die offene Küche. »Grünen Tee?«
Sie nickte.
Er kochte den Tee und füllte ihn in zwei schöne Schalen. Sie löste sich von der Scheibe und stand nun auf dem Teppich. Von hier aus spiegelte die Scheibe. Er setzte sich auf eines der großen Bodenkissen und bot ihr das zweite an. Auf einmal schien alles wieder ganz selbstverständlich. Sie tranken den Tee, und die Spannung hatte sich restlos entladen, als hätte es die Situation zuvor gar nicht gegeben.
Nach einem tiefen, traumlosen Schlaf erwachte sie am nächsten Morgen im Hotel. Ihre Berührung am Fenster erschien nun wie eine rote Erhebung auf einer weißen Fläche, und sie war sich nicht mehr sicher, ob sie nicht im Nachhinein auf das Bild gesetzt worden war.
Das Telefon klingelte. Der Rezeptionist sagte, man hätte eine Nachricht für sie, und fragte, ob man sie ihr zustellen könne. Ja, antwortete sie und meinte nein. Sie zog einen der dünnen weißen Baumwollkimonos über und wartete an der Tür. Der Kimono passte genau, die beiden Enden des Gürtelswaren gleich lang und hingen links und rechts auf ihren Oberschenkel. Sie schaute in den Spiegel neben dem Eingang: nichts von einer kleinen, schlampigen, rothaarigen Elfe. Nach ein paar Minuten klopfte es. Sie öffnete, und ein Page brachte ihr einen kleinen Brief auf einem Holztablett. Auf dem Umschlag stand: Mr. Ginster. Sie gab dem Pagen ein paar Münzen und hielt den Umschlag in den Händen. Wer war Mr. Ginster? Wahrscheinlich hatten sie sich nur verschrieben, aber die Frage stellte sich trotzdem. Sie war es nicht, und Victor war es auch nicht.
Sie öffnete den Brief: ein Hotelvordruck mit einer maschinengetippten Nachricht.
Alison – wo bist du?
V.
9.45 Uhr Berlin, Deutschland
Victor? Berlin? Die Sätze aus dem Film im Flugzeug: Du hast dich selbst angelockt. Ich warte nicht auf dich. Ich bin da.
Sie wählte die Nummer der Rezeption. Der Rezeptionist meldete sich mit: »Was kann ich für sie tun, Mr. Ginster?« Sie legte auf.
Sie öffnete die Minibar und nahm einen kalten Milchkaffee heraus. Die gleiche Dose wie auf dem Bahnsteig. Hatte Yoko jemandem in Berlin erzählt, in welchem Hotel sie gebucht hatte? Sie wählte Siris Nummer. Es dauerte, bis sich die Leitung aufgebaut hatte. Jemand stellte ihr eine Frage, die sich durch das Senden der Frage selbst beantwortete. Wenn dieser Jemand nicht wusste, wo sie war, dann konnte er ihr die Frage auch nicht stellen. Du hast dich selbst angelockt. Sie warf die leere Dose in den kleinen Papierkorb unter dem Schreibtisch. Ich warte nicht auf dich. Ich bin da.
Der Telefonhörer an ihrer Wange fühlte sich kalt an. Das Knacken. Eduard.
»Hallo, hier ist Alison«, sagte sie erleichtert.
»Hallo, Alison«, antwortete er, und sie hielt den Atem an.
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