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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Mutter, ohne ihren Tonfall abzuändern, dann wartete sie eine Weile: »Und was machst du dann, wenn du keine Kinder hast? Ich meine, den ganzen Tag.«
    Yoko hatte große Lust, laut zu lachen, aber sie riss sich zusammen: »Ich arbeite. Ich habe eine Stelle in einem Architekturbüro.Ich bin Architektin. Die Deutschen kennen Tadao Ando.«
    »Wen?« fragte ihre Mutter, dann fuhr sie fort: »Architektin? Das ist ..., keiner von uns war Architekt. Und schon gar keine Frau. Dein Mann muss sehr verständnisvoll sein. Baust du denn schöne Häuser?«
    »Gerade bauen wir ein Krankenhaus«, sagte Yoko.
    »Ein Krankenhaus. Das ist ja schrecklich«, sagte ihre Mutter.
    Dann griff sie hinter sich und holte ein kleines, aufwendig verpacktes Geschenk hervor: »Bring das hier deinem Mann mit, es ist Vaters Füllfederhalter, er hat dir damit all die Briefe geschrieben, die er nicht abgeschickt hat. Vielleicht kann dein Mann ihn ja benutzen, wenn du wieder mal ein Krankenhaus baust.«
    Yoko schluckte, die Sätze ihrer Mutter machten keinen Unterschied zwischen Kirschblüten und dem Tod.
    Sie stand auf, kniete vor ihrer Mutter nieder, nahm das Etui entgegen, hob es einmal kurz an, verneigte sich, bis ihr Kopf den Boden berührte, dann drehte sie sich zu ihrem Bruder, küsste ihn, flüsterte ihm etwas ins Ohr und ging aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, aus der Tür zum Bahnhof, und jeden Schritt, den sie zwischen sich und das Haus legte, dachte sie an Berlin und das Weiß ihrer Wände, dass sie ihre Wände in zarten Farben streichen würde und ihrem Chef einen Kuss geben, diesen Kuss, der schon so lange zwischen ihnen schwebte.
    Dann würden sie weitersehen.
     
    Kurz vor dem Bahnhof blieb sie an einem kleinen Weiher stehen, packte das Geschenk aus, wickelte es aus all seinen Lagen und Faltungen teuersten, feinsten Papiers, öffnete es und drehte den smaragdgrünen Füllfederhalter ein paar Malzwischen den Fingern. Sie würde dieses Geschenk niemandem mitbringen, schon gar nicht irgendeinem künftigen Schwiegersohn. Es gehörte ihrem Vater, und er hätte sich niemals gewünscht, dass sein Füllfederhalter seinen Schwiegersohn gemeuchelt hätte. Sie schaute ihn noch einmal an, dann warf sie ihn wie einen Pfeil durch die Luft ins Wasser. Er tauchte mit der Spitze ein, als machte er einen eleganten Kopfsprung, dann glitt er durchs Wasser des Weihers, bis er auf den hübschen runden Steinen liegen blieb. Seine goldene Federspitze funkelte, die Arme einer olivgrünen Wasserpflanze schwebten über seinen Stiel, und von der anderen Seite kam ein Karpfen geschwommen. Jetzt hatte er ein Grab.

 
    Kaum war Siri aus der automatischen Tür des Krankenhauses auf die Straße getreten, fühlte sie sich gestärkt, ihr Kopf dröhnte noch etwas, aber daran hatte sie sich inzwischen gewöhnt. Und schon nach ein paar Schritten kamen ihr die letzten Tage wie ein Spuk vor. Sie hatte ihre Nachbarin gebeten, sie abzuholen, sie wollte dieses Kapitel ihres Lebens so beiläufig wie möglich beenden. Ihre Nachbarin hatte direkt vor der Tür geparkt und das Valium mitgebracht. Im Auto redeten sie kaum. Von der Charité zum Wittenbergplatz.
    »Haben Sie eigentlich Felix ...?« fragte Siri, als das KaDeWe im Rückspiegel verschwunden war.
    »Ich war mit ihm im Aquarium, er wollte unbedingt zu den Giftfröschen. Er ist stark. Er weiß, dass etwas nicht in Ordnung ist, er weiß, dass das mit dem Blinddarm nicht so ganz stimmt, aber er weiß auch, dass sie alles versuchen, um es wieder hinzubekommen. Und das, obwohl er noch so klein ist«, sagte sie, ohne ihren Blick von der Straße zu nehmen. »Vor den Smaragdfröschen hat er mich gefragt: Ist Mama so schön, weil sie so gefährlich ist, oder ist sie so gefährlich, weil sie so schön ist? Ich habe ihn gefragt, warum seine Mama gefährlich sei, und er hat geantwortet: Ist sie doch gar nicht.«
    Siri schluckte. Felix war noch im Kindergarten. Heute Nachmittag würde sie ihm in die Augen schauen müssen und ihm die Narbe erklären, die es nicht gab.
    »Können Sie da vorn bitte abbiegen?« fragte sie.
     
    Vera stand in der Tür, beide Türflügel geöffnet. Sie sah erschöpft aus. Das Licht in der Wohnung war von den schweren Vorhängen zu beiden Seiten der Fenster gedimmt.
    »Siri, Gott sei Dank bist du hier. Komm rein!« Und wieder winkte sie sie hinein, nur dass das Geklacker der vielen Armreifen fehlte. Auch an ihren Fingern, Ohren und ihrem Hals klackerte und funkelte nichts.
    »Wo ist denn dein ganzer

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