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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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das kein richtiges Leben war. Traum und Tod. Freud ließ sich nicht vertreiben, nicht so schnell, nicht so einfach.
    Noch mit zwanzig hatte der Tod einen Ausgang dargestellt, eine denkbare Option, einen Ausweg, aber nun bekam er immer mehr einen sentimentalen Anstrich, wurde immer mehr zu etwas, das sie sich nicht mehr abkaufte. Je älter sie wurde, desto weniger kaufte sie sich den Tod als mögliche Freiheitsoption ab; je älter sie wurde, desto mehr wurde der Gedanke denkbar, dass Tod etwas war, das sowieso passieren würde, und dieser Gedanke wäre mit zwanzig der allergrößte Skandal gewesen, den man sich überhaupt ausmalen konnte, oder etwa nicht?
     
    Genau drei Jahre war es her, dass ihr eine einzige Szene aus einem einzigen Buch den Freitod vermasselt hatte. Es war nur eine Szene, aber ihr Ton würde als Hintergrundmusik spielen und alles zunichtemachen, jeden noch so mutigen Versuch.
    Die junge Frau aus dem Buch konnte sich nicht aus dem Fenster stürzen, weil von irgendwoher die falsche Musik spielte und sie es mit diesem allerschlechtesten Folksong der Welt einfachnicht tun konnte, weil sie sich mit Mhairis Wedding, diesem besonders misslungenen Beispiel pseudokeltischer Kitschkost einfach nicht aus dem Leben verabschieden konnte.
    Sterben konnte sie also nicht, und nach Hause konnte sie auch nicht, weil das ein Verrat wäre – an Stasiuk und seinem singenden Kneipenwirt. Vielleicht in den Laden. Weit war es nicht. Gerade fuhr sie durch die Münzstraße, die noch vor ein paar Jahren karg gewesen war, eine Durchgangsstraße vom Hackeschen Markt zum Alexanderplatz mit ein paar skurrilen Kneipen, Dönerbuden und einem Kleinstadt-Italiener, aber inzwischen boomte es hier, und jeden Monat eröffnete ein neuer Shop. Vielleicht sollte sie also in ihren Laden fahren und sich die Lippen schminken mit dem brombeerfarbenen Lippenstift, den ihr Tom am ersten Tag von den Lippen geküsst hatte. Aber auch im Laden würde sie nur darauf warten, dass es endlich Abend wurde. Er wartete nie. Es war immer sie, die wartete.
     
    Inzwischen stand sie am Rosenthaler Platz auf der Linksabbiegerspur an der roten Ampel, um in die Invalidenstraße einzubiegen. Dann erschien auf der rechten Seite das Naturkundemuseum, und durch die Fensterfront konnte man ein Dinosaurierskelett sehen. Wenn sie ihre Tochter schon nicht nach Polen brachte, wo ihr Vater beweint werden konnte, dann würde sie jetzt wenigstens mit ihr ins Museum zu den Dinosauriern gehen.
     
    »Ein Erwachsener, ein Kind«, sagte sie zu der Frau an der Kasse.
    Die Kassiererin erhob sich etwas von ihrem Drehstuhl und lugte hinter ihrem Tresen hervor: »Wo ...?«
    Sie fasste sich mit der flachen Hand auf die Lippen, wie um die Wörter zurück in ihre Mundhöhle zu schieben.
    Die Kassiererin schaute sie zögernd an.
    »Eine Person«, sagte sie, legte einen Schein auf den Tresen, nahm die Karte und ging hinein, dem Dinosaurier entgegen.
    Das Gerippe war so groß, dass sie ihren Kopf gar nicht weit genug in den Nacken legen konnte. Auf einer Animation riss ein kleinerer Dinosaurier einem anderen Tier ein Bein aus. Vielleicht nicht das richtige Begrüßungskomitee für ein Neugeborenes, dachte sie und ging durch die große Halle hindurch in die wunderbar verstaubten Räume mit den ausgestopften Tieren – schon besser.
    Als sie an dem Nilpferdbaby vorbeikam, stand ein kleines, dunkel gelocktes Mädchen mit offenem Mund davor, das ihre Tochter gewesen sein könnte. Sie konnte nicht anders, sie strich dem kleinen Mädchen über die Locken.
    »Mami, warum hat das Nilpferd so viele Zahnlücken?« fragte das Mädchen, drehte sich um und bekam einen Schreck.
    Eine blonde, großgewachsene Frau mit langen glatten Haaren kam um die Ecke und nahm das Mädchen auf den Arm. Die Kleine schmiegte sich an die Blonde und fragte noch einmal flüsternd nach den Zahnlücken, wobei sie Friederike aus den Augenwinkeln musterte.
    Sie ging weiter in die Räume, wo Berglandschaften hinter Glas aufgebaut waren. Den Pappmascheehügeln sah man ihr Alter an, den gemalten Himmeln die Pinselstriche – nicht einmal der Versuch eines Als-ob, ganz klare Schaukastenwelt, herrlich. Vielleicht gefiel ihr das alles deswegen so gut, weil es so etwas wie eine Entwirklichung darstellte, die sternenferne Welt , die sich immer dann vor ihr auftat, wenn Tom da und dann wieder weg war.
    Der Raum mit den Planeten. Jeder einzelne wunderschön, einzigartig und allein. Selbst die kleinen, weniger spektakulären Sterne,

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