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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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stimmte.
    Vera schwieg eine Weile, dann sagte sie mit gesenktem Blick: »Doch, Siri, du kannst aussteigen. Und dann könnt ihr ...«, sie machte eine Pause und fragte dann: »Wollt ihr zu mir ziehen – Felix und du? Ihr könnt hier schalten und walten, wie ihr wollt. Ich könnte euch ernähren, wozu brauche ich all mein Geld? Wenn ihr nur hierherkämt und ...«
    »Vera«, Siri traten die Tränen in die Augen.
    »Ich würde sogar auf der Terrasse rauchen und ab und zu irgendeinen Auflauf produzieren. Ich würde Felix zum Fußball bringen und abends auf ihn aufpassen, damit du ausgehen kannst und den Männern den Kopf verdrehen. Und dann würde ich sie abwimmeln, deine Verehrer, wenn sie scharenweise vor unserer Tür ihre Zelte aufschlagen, um dich im Morgengrauen zu besingen.«
    »Das klingt alles so schön, so wunderschön, aber ... ich würde mit Felix aus dem fahrenden Zug springen müssen, und das würden wir, glaube ich, nicht überleben. Felix vielleicht, seine Knochen vielleicht, aber ich nicht. Ich würde es nicht überleben.«
    Sie schwiegen. Vera trank aus, stand auf, ging zum Fenster.
    »Vielleicht war es das«, sagte Siri plötzlich und blickte auf.
    »Was?« fragte Vera und blickte sich um.
    »Vielleicht war ich deswegen im Krankenhaus.« Siri schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Vielleicht hatte ich genau das probiert, ohne es gemerkt zu haben, vielleicht hat mein Lebenswille versucht, mich aus dem Zug zu schmeißen.«
    Vera schaute wieder aus dem Fenster und nickte.
     
    Plötzlich hörte Siri einen Schlüssel im Schloss. Wer war das? Albert? Vera drehte sich um. Siri formte Alberts Namen mit den Lippen, und Vera nickte ein müdes, erleichtertes Nicken.
    »Ja, er ist wieder da, wir können nicht anders. Es ist zu spät«, flüsterte sie.
    »Und Großmutter?« Siri wurde bleich, bis auf die Wangen, wo sich blitzschnell zwei rote Kreise gebildet hatten.
    »Das weiß ich nicht. Das konnte ich ihn nicht fragen, aber ...«, sagte Vera.
    Siri stand auf.
    »Siri – wohin gehst du?«
    »Ich muss zu Großmutter, sie ... es tut mir leid.«
    »Geh zu ihr, Siri, natürlich.«
    »Ich liebe dich, Vera, Albert gehört zu dir, du sollst nicht ...«
    »Ich dich auch, mein Täubchen, ich dich auch.«
     
    Als Siri auf dem Weg zur Tür war, rief Vera: »Und wage es nicht, auch nur einen einzigen Klunker zurückzuschicken. Sie gehören dir.«
    Siri hielt kurz inne, bog um die Ecke, als Albert vor ihr stand. Er schaute ihr in die Augen mit angeschlagener Nonchalance: »Gehst du schon? Kein Glas mehr?«
    »Ich muss ...«, sagte Siri und brach ab, sie würde ihm nicht sagen, wohin sie ging, sie würde es ihnen allen ersparen. Wenn sie Theater spielen wollten, dann sollten sie es tun. Sie wusste sowieso nicht mehr, ob es noch etwas anderes gab.
     
    Herr Kowachek, der ihrer Großmutter schon seit Jahren bei allem Möglichen half, öffnete die Tür. Auf dem Tisch im Eingang lag nichts mehr, der Reinigungszettel und die anderen Utensilien des Alltags mit Albert waren verschwunden. Herr Kowachek schaute sie strahlend an, machte ihr ein Komplimentund rief in das Wohnzimmer hinein: »Ihre Enkeltochter kommt zu Besuch!«
    »Der Spuk ist vorbei«, sagte Großmutter und breitete die Arme aus.
    Siri ging langsam auf sie zu.
    Großmutter machte ein paar vorsichtige Schritte, schielte einmal kurz auf die Turnschuhe, die sie trug, und murmelte: »Sie gefallen mir auch nicht, aber ich bin noch etwas wackelig«, und nahm sie in die Arme, als hätte es den Nachmittag nie gegeben. »Und weißt du was, du hast uns gerettet.«
    Siri schaute sie fragend an.
    »Weil es eine Lüge war, und weil du mich erlöst hast mit deinem Satz.«
    »Erlöst?«
    »Vielleicht hast du auch was anderes gemeint, aber egal. Es war eine Lüge, das mit Albert und mir, dass wir miteinander leben können. Und dass man mit siebzig noch mal von vorne anfangen kann. Man kann es nicht. Die Weichen sind gestellt. Vor allem dann, wenn es einen Zug gibt, der fährt und dessen Geratter einem in den Ohren liegt. Die große Aufregung trägt zwei Tage. Das vertraute Geratter aber bleibt, und wir haben es beide zu Hause – dieses Geratter. Dein Großvater ist überhaupt ein Großmeister des Ratterns. Wir hatten das unterschätzt. Albert und ich lieben uns, aber wir können nicht miteinander leben. Ich brauche jemanden, der steht und steht, weil ich sonst falle. Und das ist nicht Albert, das ist dein Großvater. Jetzt muss ich es ihm nur noch sagen. Wie ein

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