Durch den Wind
Kometen und Meteoriten waren allein, und wennsie sich mal trafen, dann zerstörte dieses Aufeinandertreffen den einen, vernichtete den anderen. Jede Begegnung hinterließ einen tiefen Krater, wenn überhaupt noch etwas von ihnen übrig blieb.
Sie schaute auf die Uhr: gerade mal zwei. Was war nur mit ihr los? Sie konnte nicht einmal das Planetensystem betrachten, ohne sich gleich irgendwelche Katastrophen vorzustellen. Sie sollte lieber wieder gehen, vielleicht doch in den Laden, das neue Thema voranbringen, an der Promotion schreiben, über die Lüge nachdenken, aber nicht das Naturkundemuseum dramatisieren.
Gerade gestern Abend hatte sie darüber nachgedacht, was die Lüge mit dem Tod zu tun hatte und die Wahrheit mit dem Leben; und dass die Suche nach der Wahrheit genauso bedrohlich war wie die Suche nach der Lüge; und dass die Welt der Lüge jeden in ein unfassbares Netz verstrickte und die Welt der Wahrheit so lange trennte und teilte, bis man eingemauert war zwischen diesen Grenzen.
Vielleicht sollte sie zu Tom fahren und einfach nur bei ihm sein. Wenn er sie sehen wollte, wie er vorhin gesagt hatte (schließlich hatte er angerufen, nicht sie), dann würde er nichts dagegen haben, wenn sie jetzt schon kam.
Sie klingelte an Toms Haustür. Die Stimme aus der Gegensprechanlage klang ein bisschen gehetzt, oder täuschte sie sich? Schließlich wollte er eine Tochter mit ihr, er hatte das gesagt, heute, sie hatte sich das nicht eingebildet.
Als sie vor ihm stand, flirrte sein Blick. Vielleicht war es doch nicht so gut gewesen zu kommen.
»Fritz, ich ...«, stotterte er.
»Ich war in der Gegend«, sagte sie.
»Komm rein«, sagte er, blieb aber im Türrahmen stehen.
Erst jetzt merkte sie, dass sie ihn eigentlich gar nicht sehen wollte, dass es nur nicht anders gegangen war, dass ihre Sehnsucht sie wie einen Geisterfahrer in die falsche Richtung gelenkt hatte. Sie gab ihm einen Kuss und drehte sich wieder um: »Das war’s auch schon.«
Schlagartig beruhigte sich sein Blick, er schaute sie an und räumte den Durchgang. Sie zwang sich, die Treppe wieder herunterzusteigen, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe. Er wollte eine Tochter mit ihr, aber das hieß nicht, dass er nicht mehr allein sein durfte. Sie würde das nie verstehen, aber etwas in ihr ließ sie so handeln, als täte sie es.
Als sie wieder im Auto saß, ließ sie ihren Kopf auf das Lenkrad sinken. Sie war zu alt, um zu fliehen, und zu jung, um nach Hause zu fahren. War man an einem Punkt, an dem man genau dort bleiben musste, wo man nicht mehr weiter wusste?
Ihr Blick fiel auf das umgedrehte Buch auf dem Beifahrersitz. Sie nahm Stasiuk hoch, drückte ihn an die Brust und flüsterte die Frage, die sie niemandem vorher je gestellt hatte: »Wie machst du das, leben?«
Ich habe die Blumen der Krankenschwester gegeben«, sagte Eduard, als er wieder in ihr Zimmer kam, »für das Schwesternzimmer. Sie meinte, sie könne es gar nicht sehen, dass Blumen einfach so auf dem Gang rumstünden.«
Sie reagierte nicht.
Er schaute sie fragend an.
»Und was hat sie gesagt?« fragte sie mit monotoner Stimme.
»Bedankt hat sie sich«, sagte er. »Was sollte sie denn sagen?«
»Vielleicht dass sie am Leben bleiben möchte.«
Er schaute sie entsetzt an: »Was?«
»Dass sie leben möchte, einfach nur, weil leben besser ist als sterben.«
»Siri ...?«
»Was ist?«
»Willst du vielleicht ein bisschen schlafen?« fragte er.
»Ich weiß, was ich sage«, sagte sie, »und du weißt es auch.«
»Was weiß ich?« fragte er zögerlich.
»Es gibt Menschen, die gerne leben.«
Er ging ans Fenster, schaute hinaus. Auf dem Krankenhaushof schob eine Mutter ihren Sohn im Rollstuhl über den Weg.
»Oh, Gott, die Armen«, murmelte er.
»Wer?«
»Die Mutter.«
»Wovon sprichst du?« fragte sie.
»Da draußen schiebt eine Mutter ihren Sohn im Rollstuhl durch die Gegend. Wie müde sie aussieht.«
Schweigen.
»Wie geht es Felix? Hat er was gefragt?«
»Hat er.«
»Und?«
»Ich habe ihm gesagt, dass er dich nicht besuchen kann, weil du Ruhe brauchst, um schnell gesund zu werden. Und er hat es verstanden. Du kennst ihn doch. Er versteht schon so viel.«
Ihre Verachtung für ihn nahm wieder Fahrt auf.
»Wenn er dich doch besuchen kommt, dann möchte ich, dass du dich ein bisschen zusammenreißt und sitzt«, sagte er.
»Sitzt?«
»Ist das zu viel verlangt?« fragte er, und seine Stimme bekam einen Unterton, den sie noch nie gehört hatte. Gemein
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