Durch den Wind
Schmuck?«
»Warst du noch gar nicht zu Hause?« fragte Vera.
»Nein«, antwortete Siri.
»Ich habe ihn dir schicken lassen, heute Morgen per Fahrradkurier. Das war ein Spaß. Ich habe dem jungen Mann mit den verfilzten Haaren noch gesagt, dass er einen Schatz transportiert, dass er einen ganzen Korb voll Edelsteine auf seinem Rücken trägt, aber er hat nur gelacht und gesagt: Schätze sind meine Spezialität, und dann ist er abgerauscht. Eduard war zu Hause, weil er ja auf dich warten wollte, und so nehme ich an, dass der Korb mit meinen Diamanten jetzt bei dir gelandet ist. Dem jungen Mann vertraue ich voll und ganz. Er war verschmitzt und witzig, kein Spießer, der einer alten Dame ihre Diamanten neidet.«
»Du ...?«
»Nein, du brauchst sie, du brauchst jetzt alles, was funkelt. Die Saphire passen gut zu deinen blauen Augen, und die Rubine zu deinem Blut. Ich brauche das alles nicht mehr«, sagte Vera.
Siri nahm Vera in den Arm, und sie hielten sich eine Weile fest. Das Klackern fehlte, aber der Geruch war der gleiche geblieben.
Im Wohnzimmer fragte Vera: »Siri?«
»Ja.«
»Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Siri und räusperte sich.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Vera leise, »das habe ich mir gedacht.«
Siri suchte erneut das panikartige Gefühl, das sie überkommen hatte, als sie die Farben der Blumen und die Farben der Medikamente überblendet hatte; sie suchte das, was die braunen Schuhe von Eduard und der Po der rothaarigen Krankenschwester in ihr ausgelöst hatten, aber es war weg.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Vorhin war mir noch so, als hätte ..., aber jetzt, jetzt weiß ich nicht mehr genau, was überhaupt war. Die Ärzte haben was von zu vielen Medikamenten gesagt, aber das glaube ich nicht. Ich habe nicht viel mehr genommen als sonst auch, vielleicht ein bisschen. Diese neuen Tabletten, die Eduard mitgebracht hat.«
»Natürlich hast du das nicht«, sagte Vera, holte eine Karaffe mit Sherry: »Wir brauchen also keinen Detektiv.«
»Einen Detektiv?« Siri musste lachen.
»Um den Fall aufzuklären. Den brauchen wir also nicht. Was wir brauchen, ist ein Grund zum Leben, und das kann nicht nur dein Sohn sein – auch wenn er es ist, der Grund muss auch noch woanders liegen, Eduard ...«
»Eduard tut alles, was er kann«, sagte Siri, um ihn aus dem Kopf zu bekommen.
»Aber er meint es zu gut. Du musst ...«, sagte Vera und stellte ihr ein Sherryglas hin.
Siri trank einen Schluck: »Ich kann ihn nicht verlassen.«
Vera schwieg, trank, rauchte.
»Felix ... Ich kann das nicht. Er ist das einzig Stabile, was er hat«, sagte Siri.
Vera schwieg.
»Außerdem: Ob es woanders besser wird? Ich hab dieses Spiel schon so lange mitgespielt, ich bin doch längst Teil des Spiels. Da habe ich wenigstens meinen Platz. Und weißt du noch: Als ich Eduard geheiratet habe, war ich so stolz auf mich, weil ich mich für das Leben entschieden hatte ..., weil er so gerne lebt, weil er das Leben liebt. Und jetzt?«
»Jetzt hat er dich in den Tod ...«
»Nein«, sagte Siri.
»Aber in die Psychiatrie hat er dich gebracht, dein toller Mann – hingebracht, aber nicht abgeholt. Er hat dich nicht abgeholt. Ich habe dich aus dem Fenster gesehen. Oder fährt Eduard jetzt einen Sportwagen?«
»Ich wollte nicht, dass er ...«
»Gut wär’s, wenn er einen Sportwagen fahren würde, dann hätte er wenigstens endlich auch mal eine Krise, eine sichtbare Krise, meine ich. Bei aller Liebe, das geht nicht. Er kann dich nicht um den Verstand bringen und dich dann nicht wieder nach Hause holen. Er hätte sowieso verhindern müssen, dass man dich in dieses Krankenhaus schleppt. Hast du dort auch diese demütigenden Kittel getragen? Da sollte man mal einen Designer ranlassen, einen, der was kann, einen Franzosen oder so was. Als ob man in dieser Kluft gesund werden könnte!«
»Vera ...«
»Nein, Siri, nein. Du weißt, dass ich deinem feinen Herrn Eduard immer die Stange gehalten habe, obwohl er seit eh und je diese bourgeoise Charakterstärke vor sich hergetragen hat, aber genug ist genug.«
»Ich ... Ich weiß nicht, wie ich ... Irgendwie konnte man doch noch mit Mitte zwanzig den Zug so schnell wechseln, man konnte einfach auf- und wieder abspringen, aber jetztkann man gar nicht mehr aussteigen, auch wenn man im vollkommen falschen sitzt.«
Der nächste Bahnhof kam nicht. Der Zug fuhr und fuhr, obwohl weder die Richtung noch der Platz noch die Geschwindigkeit
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