Durcheinandertal
Stimme rezitierte: »Ihr holden Schwäne, und trunken von Küssen tunkt ihr das Haupt ins heilignüchterne Wasser.« Das Geschrei und Gestöhn war gewaltig, wobei nicht auszumachen war, wer am meisten schrie und stöhnte, Marihuana-Joe, Big-Jimmy oder das Mädchen.
Endlich verschwand Big-Jimmy im Kurhaus, und das Mädchen flüchtete gegen die Schlucht hinunter. Der Hund ließ nicht los, er hatte sich derart in den Hintern Marihuana-Joes gewühlt, daß auch der Nachtwächter Wanzenried machtlos blieb. Erst Red-Flowers befreite Marihuana-Joe vom wütenden Tier, indem er seine Magnum von Smith & Wesson abfeuerte, wenn auch ohne den Hund zu treffen: Der Hund schnappte sich die Smith
& Wesson und raste mit dem umgestürzten Wagen die Schlucht hinunter.
Wanzenried rief an. Der Reichsgraf überlegte. Zu seinen Geschäften war eine neue Variante gekommen. Seit er Mitglied des Syndikats geworden war, verkaufte er neben gefälschten Bildern, von denen er durchblicken ließ, sie seien vielleicht 43
echt, auch echte Bilder, von denen er behauptete, sie seien gefälscht, und die er nur an Kunden verkaufte, die sich beim Syndikat erkundigt hatten und wußten, daß die Bilder echt, aber gestohlen waren, oft aus den Villen jener, die sich in der Sommersaison von der Betrübnis des Reichtums durch die Heiterkeit der Armut trösten ließen. Von Kücksen überlegte, ob er die Minervastraße informieren sollte, beschloß aber, selber zu handeln. Gegen Mittag hielten ein Aston Martin und zwei Cadillacs vor dem Kurhaus. Aus dem Aston Martin stieg von Kücksen, aus den Cadillacs seine Adoptivsöhne. Es war das erste Mal, daß der Reichsgraf das Kurhaus betrat, strohblond mit blitzendem Monokel, weiße Handschuhe, mit einer Dobermann-Hündin an der Leine. Wanzenried führte ihn in die Halle.
»Eigentlich hätte ich Zürich anrufen sollen«, sagte Wanzenried.
»Hätte?« fragte der Reichsgraf.
»Ein Befehl«, gab Wanzenried zu.
»Warum nicht befolgt?« wollte der Reichsgraf wissen.
Wanzenried brummte, Liechtenstein sei näher, da habe er gedacht –
»Ein Esel denkt nicht, er gehorcht«, sagte der Reichsgraf und hatte das Gefühl, der Nachtwächter lüge.
Auf einem Sofa lag Marihuana-Joe stöhnend auf dem Bauch.
»Wo sind die andern?« fragte von Kücksen, und als Wanzenried nicht antwortete, befahl von Kücksen mit lauter, herrischer Stimme:
»Hervorkommen!«
Die Halle füllte sich langsam, finstere, verschlossene Gesichter, einige der Gangster mit Maschinenpistolen. Irgend etwas stimmte nicht. Daß das Kurhaus wintersüber als Versteck diente, war ein genialer Einfall, vielleicht des Kaminfegers im Penthouse über dem Hudson, vielleicht von 44
Raphael, Raphael und Raphael, aber mit einem Zwischenfall, wie ihn Wanzenried gemeldet hatte, war zu rechnen gewesen.
Die Langeweile mußte als Störfaktor einkalkuliert worden sein.
Vielleicht wollten der Kaminfeger in New York oder die Minervastraße damit die Bande auffliegen lassen. Aber vielleicht hatte man nicht mit der Langeweile gerechnet, vielleicht war er, von Kücksen, am Zwischenfall schuld, er mit seinen Klassikern, mein Gott, wenn er diese Visagen sah, die mußten sich doch langweilen. Vielleicht hätte er Raphael, Raphael und Raphael doch benachrichtigen sollen, aber vielleicht wollten die gerade, daß er eigenmächtig vorging, vielleicht wollte das Anwaltsbüro in der Minervastraße 33a, daß er die Polizei… Dann hing er, der Reichsgraf, als Mieter eines leeren Kurhauses. Er mußte den Hals aus der Schlinge ziehen. New York war ihm eine Lehre gewesen. Ein zweites Mal sollte ihn das Syndikat nicht ruinieren. Marihuana-Joe stöhnte. Der Reichsgraf trat zu ihm. Der Mann war schwer verwundet. Es mußte sich um einen Mordshund gehandelt haben.
Er fragte, was er tun könne, das Kantonsspital komme wohl nicht in Frage.
»Um Gottes willen«, ächzte Marihuana-Joe und nannte eine Privatklinik in Ascona. In der Strada della Collina.
Aber der Mordshund hatte nun einmal gebissen, und das Mädchen war vergewaltigt worden. Ein Wunder, daß die Polizei noch nicht da war. Es gab nur einen Ausweg. Er hatte seinen Dobermann zu seinem persönlichen Schutz mitgenommen, nun konnte er ihm aus der peinlichen Lage helfen, in die ihn das Syndikat gebracht hatte. Der Reichsgraf zündete sich eine Zigarette an, sah sich um, fragte: »Wer?«
Schweigen.
Der Reichsgraf fixierte Wanzenried, befahl: »Umdrehen!«
Wanzenried drehte sich um.
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Der Reichsgraf befahl: »Hose
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