Durcheinandertal
Der Arzt, der sommers das Kurhaus betreut hatte, wurde nicht mehr benötigt, das Wasser der Heilquelle als Tafelwasser benutzt: als Symbol der Armut, ein Mittelloser hatte Wasser zu trinken statt Wein. Ein wahrer Fimmel, arm zu leben, ergriff die Millionäre und Millionärswitwen, Generaldirektoren machten die Betten, Privatbankiers staubsaugerten, Großindustrielle deckten im Speisesaal die Tische, Spitzenmanager schälten Kartoffeln, Multimillionärswitwen kochten und übernahmen die Wäscherei, Ölscheiche und Tankermagnate mähten den Rasen, jäteten, stachen um, sägten, hämmerten, hobelten, strichen an und zahlten dafür immense Preise. Nicht problemlos, denn die Tätigkeiten, die sonst vom Dorf besorgt 38
wurden, übten nun die Gäste aus, sie lächelten, lachten, trällerten, jubelten, johlten und quietschten dabei, es war ein Jammer, hatten doch das Kurhaus und das Dorf eine ökonomische Einheit gebildet. Moses Melkers Lehre, die er jeden Tag in einer Morgen- und Abendandacht verkündete, brachte nicht dem Dorf, sondern dem Kurhaus Glück. Dieses machte die Geschäfte, und das Dorf wurde arbeitslos. Der Drang nach Armut, verbunden mit einfacher Kost, ruinierte die Konfiserien, statt Brötchen und Leckereien war nur noch simples Brot zu backen. Die Tea-Rooms blieben leer. Der Taxibetrieb geriet ins Stocken, die Streifzüge der Gäste nach den berühmten Fremdenkurorten des Kantons unterblieben.
Niemand kaufte noch die Bauernschränke, Kommoden, Tische und Stühle und die großen und kleinen Hirsche, wer arm leben will, verschwendet kein Geld. Das Dorf hatte jeden ökonomischen Sinn verloren.
Am 15. Oktober schloß das Kurhaus. Die Gäste zogen getröstet nach Hause, nahmen die Last ihres Reichtums wieder auf sich, gestählt durch die Armut, die sie genossen hatten.
Doch auch im Winter hatte das Dorf im Kurhaus nichts mehr zu suchen. War der Nachtwächter bisher einer vom Dorfe gewesen, hatten die Kinder in der Halle gespielt und waren durch die Korridore gerannt, und hatten sich bisweilen die Männer im Weinkeller umgesehen, nahm nun ein bulliger Kerl mit einem seltsam steifen Gesicht die Stelle des Nachtwächters ein, sprach Zürcherdeutsch und verjagte jeden, der in die Nähe kam, Wenn das Syndikat hatte das Kurhaus durch die Swiss Society for Morality nicht ohne Hintergedanken erstanden. Es waren immer Mitglieder aus dem Verkehr zu ziehen. Früher war das kein Problem gewesen, wen die Polizei zu intensiv gesucht hatte, war leicht zu beseitigen, wen findet man einzementiert im Hudson, im East River, im Michigan-See oder gar im Stillen Ozean wieder? Das Syndikat war gründlich, 39
es duldete keine Stümperei, doch seine Methoden schreckten ab, erstklassige, sauber arbeitende Schwerverbrecher wurden Mangelware, mit Dilettanten zu arbeiten schadete dem Renommee und setzte den Umsatz herab, und so war denn das Kurhaus ein Fund. Das Syndikat wartete die Wintersaison ab.
Das Kurhaus wurde geschlossen, und die vom FBI gesuchten Profis wurden dorthin abgeschoben, und die Spezialkiller und Starkidnapper in den Zimmern und Appartements untergebracht, wo sommers die Reichen gebetet hatten. Nach dem Übermut beglückender Armut lastete lähmende Trübsal, obgleich die alte Bequemlichkeit und der Luxus wiederhergestellt worden waren. Das Syndikat wußte, was es den Seinen schuldete, aber hatte nicht mit von Kücksen gerechnet. Dieser war zwar im Bilde, aber, umgeben von Kunstschätzen und Literaten, die er aus dem Sankt-Gallischen, ja aus Zürich, an seinen stets reich gedeckten Tisch am Fuß der Drei-Schwestern lockte, versorgte er das Kurhaus mit Kunstbüchern und Klassikerausgaben. Hilflos blätterten die Mafiosi, die noch Italienisch konnten, in der ›Göttlichen Komödie‹, im ›Rasenden Roland‹ oder in den ›Verlobten‹.
Irische Gangster drückten ihre Zigarren auf ›Finnegans Wake‹
aus, Ganoven von der Westküste versuchten im Shakespeare und im ›Verlorenen Paradies‹ zu buchstabieren. So saßen sich denn die Schwerverbrecher in den Lehnstühlen finster gegenüber und bombardierten sich mit den Folianten. Jeder Ausgang war ihnen untersagt, niemand durfte sie sehen, das Kurhaus war offiziell geschlossen. Die Langeweile setzte den schweren Jungs zu. Fernsehen war im Durcheinandertal noch nicht möglich; nur das Heulen der Winterstürme, der bald einsetzende Schneefall, die Stille der folgenden Nächte, drauf wieder Schneefall, drauf wieder Totenstille. Man spielte bei verhängten Fenstern
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