Durcheinandertal
»Die Mathematik ist eine Spiegelschrift der Melancholie«, »Die Physik ist nur als Kabbala sinnvoll«, »Der Mensch hat die Natur erfunden«,
»Hoffnung setzt die Hölle voraus und bewirkt sie«, aber manchmal schrieb er nur Worte nieder: Eiszeitlose, Apokalypso, Meduselei, Achillesfersengeld. Sein Verleger kam von Zeit zu Zeit, energisch, sportlich, sammelte die Blätter ein, die von den Schulkindern aufgelesen und aufbewahrt wurden, konnten sie doch mit den gefundenen Notizen etwas verdienen.
Die ›Denkstützen‹ lagen so schon in fünf Bänden vor. Die Kritik war fasziniert, nur einer behauptete, der noch nicht fünfzehnjährige Conradin Zavanetti vermöge die Handschrift Frontens so täuschend nachzuahmen, daß viele Zettel (»Lehrer furzen hochdeutsch«, »Oben saufen, unten dichten« usw.) von diesem Bengel stammten. Der Verleger kündigte einen Roman an, ›Fallstricke‹. Fronten dementierte, wurde menschen-feindlicher. Seine Kollegen vom Schriftstellerverein nannten ihn den Rübezahl vom Durcheinandertal. Er verschwand, wenn Kritiker kamen, Journalistinnen starrte er wortlos an, gefiel ihm eine, riß er sie in seine Wohnung, warf sie aufs Bett, nahm sie und jagte sie wieder aus dem Haus, ohne ein Wort mit ihr gesprochen zu haben. Als Lehrer wurde er von der Gemeinde-versammlung immer wieder abgewählt. In der Gesamtschule ging es drunter und drüber. Schrieb er und lärmten die Schüler zu arg, schleuderte er vom Fuß weg einen seiner stets offenen, genagelten Schuhe in die Klasse. Einmal hatte er Elsi 56
getroffen, die Narbe an der Stirn war noch zu sehen. Kaum daß man Lesen und Schreiben lernte und das Einmaleins. Doch da sich niemand anderes fand, blieb er, schrieb und soff weiter.
Außerdem war er dem Dorf als Gemeindeschreiber nützlich.
Der Gemeindepräsident mochte ihn, obwohl Fronten nur Hochdeutsch sprach und der Gemeindepräsident Mühe mit dem Hochdeutschen hatte.
Er stieg in den ersten Stock, wo Fronten über dem Schulzimmer wohnte. Fronten saß in der Küche am Tisch, neben ihm eine halbvolle Flasche Rum. Er schrieb. Der Gemeindepräsident setzte sich ihm gegenüber. Fronten schenkte sich Rum ein, schrieb weiter, schaute auf, öffnete das Küchenfenster, warf das Geschriebene hinaus, schloß das Fenster, holte ein zweites Glas, stellte es vor den Gemeindepräsidenten auf den Küchentisch, füllte es mit Rum, setzte sich wieder.
»Red«, sagte er und hörte dem Gemeindepräsidenten zu, der umständlich seine Sorgen erzählte.
»Pretánder«, sagte Fronten, »in diese Affäre möchte ich mich nicht einmischen. Es geht dir um den Hund. Ich hasse Hunde, Goethe hat Hunde auch gehaßt, ja er ist als Theaterdirektor zurückgetreten, weil ein Hund hätte auftreten sollen und dann aufgetreten ist. Möglich, Mani ist eine Ausnahme, ein poetischer Hund wie Mephistopheles als Pudel. Aber zu retten ist er nicht mehr. Er hat gar zu teuflisch zugebissen. Ob er freilich den richtigen Hintern erwischt hat, kann ich bei dem Durcheinander damals nicht beschwören. Vergiß das Gestürm mit dem Kurhaus. Daß Elsi eine mannstolle Donnersgöre ist, das ist eine Tatsache, und das a posteriori des Nachtwächters ist auch eine Tatsache, und Tatsachen soll man in Ruhe lassen.«
»Was willst du damit sagen«, fragte der Gemeindepräsident,
»mit dem Durcheinander?«
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»›Ihr holden Schwäne, und trunken von Küssen tunkt ihr das Haupt ins heilignüchterne Wasser‹ habe ich im Wald hinter der Dependance rezitiert«, sagte Fronten, »was schon abstrus ist, weder küssen sich die Schwäne, noch haben sie Häupter, und das gräßliche ›tunkt‹ verwandelt das heilignüchterne Wasser in Milchkaffee. Aber noch abstruser ist, was sich vor meinen Augen vor dem Lieferanteneingang abgespielt hat. Pretánder, Pretánder.« Er schwieg, goß sich Rum ein, schwieg weiter.
»Was denn?« fragte der Gemeindepräsident. »Was hast du gesehen?«
»In der Milchpfütze haben sie sich gewälzt«, antwortete Fronten, »Elsi, einer und ein zweiter und der Hund, ich habe das Stöhnen des Elementaren bis zum Wald hinter dem Kurhaus herauf gehört. Wie in der Walpurgisnacht ist es zugegangen, obgleich es am Vormittag geschah.«
Er goß sich Rum nach. »Aber misch dich nicht ein, Pretánder. Elsi verkraftet das schon. Um ehrlich zu sein, die braucht es nicht einmal zu verkraften, die ist stärker als wir alle. Und der Hund ist es wahr, daß er dir zugelaufen ist?«
»Er hat sich ins Durcheinandertal verirrt«, sagte der
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