Durcheinandertal
Unmut, feierte das ›Haus der Armut‹
Hochkonjunktur. Die Sommersaison hatte wieder begonnen. Es war überfüllt. Millionäre schliefen in Mansarden der Dependance auf Pritschen, die, hätten sie sich in Gefängnissen vorgefunden, von jeder Menschenrechtskommission mit Entrüstung für unzumutbar erklärt worden wären, aus allen Fenstern drang Lachen, Geträller und freudiges Quieken über die Schlucht zum verarmten Dorf. Doch die Gnade des Großen Alten warf auch Schatten. In einer warmen Sommernacht, es ging schon gegen zwei, machte Moses Melker, von der Seelsorge ermüdet, noch einen Rundgang im Park. Die intensiv leuchtenden Sterne erinnerten ihn an den Nil. Das mit Ottilie war ein Fehler gewesen – er hätte lieber Cäcilie – er unterdrückte den Gedankengang. Die Armut tat Moses Melker nicht gut. Er hatte sich in der eigenen Schlinge gefangen, war er doch als der Arme Moses berechtigt, im ›Hause des Reichtums‹ zu wohnen, wie er seine Villa ob Grienwil nannte.
Aber mit Schaudern dachte er an die vergangenen 75
Wintermonate zurück. Der dichte Nebel – erstaunlich, was die Grien meteorologisch zustande brachte –, der Gestank von den Niederalmen Chemiewerken her – und erst Cäcilie, Zigarren rauchend, Pralinen fressend, lesend. Sie hatte ihn beim Wort genommen, was er besitze, gehöre ihr, und er hatte die Gütertrennung unterschrieben. Wieder dachte er an den Nil.
Eigentlich hatte er sich aufs ›Haus der Armut‹ gefreut, und er hatte sich denn auch jeden Abend und jeden Morgen in die Arbeit gestürzt, und so predigte und pries er die Armut gewaltiger denn je, so gewaltig, daß die Gäste vor Entsetzen darüber, daß sie reich waren, schlotterten, um dann um so freudiger die Kurhausarmut zu genießen, das Einander-Helfen, das Einander-Zulächeln, das Füreinander-Dasein. Wenn nur das Essen etwas besser wäre, dachte Melker. Es war noch jämmerlicher als in der vorigen Saison, auch jenes der Ärmsten hierzulande mußte, verglichen mit dem, was die Multimillionäre im ›Haus der Armut‹ mit Begeisterung hinunterwürgten, als opulent bezeichnet werden. In Gedanken vertieft war er ans östliche Ende des Parks gekommen. Licht fiel auf sein Buschnegergesicht. Es kam vom obersten Stockwerk des Ostturms. Ein melodischer Gesang war zu hören. Melker trat in den Schatten zurück und ging zum Kurhaus. Im Lieferanteneingang stand Krähenbühl.
»Wer ist im Ostturm?« fragte Moses Melker.
»Niemand«, antwortete Krähenbühl.
»Aber es ist dort Licht«, sagte Moses Melker. »Und jemand singt.«
»Unsinn«, sagte Krähenbühl. »Das Turmzimmer ist leer. Es darf nicht vermietet werden. Warum, keine Ahnung. War noch nie drin.«
Moses Melker ging in den Park zurück. Im Ostturm war kein Licht mehr.
76
Für den zoologischen Garten in Kingston auf Jamaika wurden zwei Abgottschlangen erwartet. Boa constrictor. Als die Kiste geöffnet wurde, war sie leer. Zwei Wochen später wurden die Schlangen in einem Hotel zwei Autostunden von Kingston entfernt gesehen. Das Hotel schmiegte sich in einem dichten Dschungel an die Kuppe eines Regenwaldes und stand seit Wochen unter einem Sprühregen, der die Gäste vertrieben hatte. Ums Hotel war ein Schleifen, wie von Messern, hervorgerufen durch die Palmblätter, die der Wind gegeneinanderrieb. Überall schienen Wände zu fehlen, durch das Hotel stoben der Wind und der Sprühregen. Alles war feucht, und überall hingen Bananen in Bündeln und an Schnüren aufgereiht, große Bananen, kleine Bananen. In der gegen das Speisezimmer offenen Bibliothek ein aufgequollener Flügel. Reihen verschimmelter Bücher, auf den Fußböden aufgeweichte Teppiche, das Parkett gewellt, überall schossen Pilze aus den Ritzen. Im verandaähnlichen Speisezimmer nagte der Hotelbesitzer mit seiner Familie und der Köchin an einem alten Huhn. Der Hotelier war ein fünfzigjähriger, rothaariger, sommersprossiger, wimpernloser Schotte, seine Frau eine schöne, fünfzehn Jahre jüngere Mulattin, sein Sohn zwanzigjährig und tief schwarz, nur die roten Haare bewiesen, daß der Schotte doch sein Vater war, die Köchin eine zwerghafte, verrunzelte Indianerin. Von der Straße herauf raschelte etwas. Die beiden mehrere Meter langen Abgottschlangen flitzten über denTisch, die eine schneeweiß, die andere rötlichgrau mit großen eiförmigen graugelben Flecken in einem dunklen Längsstreifen, und verschwanden durch den Salon in den verandenähnlichen Vorbauten, die zu den höhergelegenen Gästezimmern
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