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Durcheinandertal

Durcheinandertal

Titel: Durcheinandertal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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führten. Die Familie saß unbeweglich vor Schreck, nur die Köchin nagte an ihrem Hühnerschenkel weiter. »O my God«, stöhnte der Hotelier, 77
    sprang auf, rannte zu einer Schrotflinte, gab eine zweite seinem Sohn, »o my God.« Sie schlichen die Veranden hinauf, rissen Türen auf. Von der Straße her hupte es, ein Postbote trug einen Sack, sagte »Briefe« und schüttete diese auf den Boden des Eßzimmers. Die Mulattin saß immer noch am Tisch.
    Unbeweglich. Die Köchin begann am zweiten Huhn zu nagen.
    Der Postbote brachte drei weitere Säcke, schüttete sie aus.
    Vater und Sohn hatten die ersten Zimmer durchsucht, stiegen die Veranden hinauf, von oben auf der Kuppe war ein Planschen zu vernehmen, ein gewaltiges Quietschen, Schnaufen und Umsichschlagen. Im Schwimmbassin wälzte sich etwas, planschte und hopste im Wasser, und weil der Regen wie ein Schleier war, konnte man nicht erkennen, was es war. Gegen die Mauer des letzten Appartements gelehnt, saßen die beiden Schwarzen, die der Schotte angestellt hatte, wiesen auf das Schwimmbassin, flüsterten »the great old man, the great old man«. Hinter der Mauer hörte der Schotte ein Klimpern. Am Tisch saß ein Albino im weißen Smoking an einer Schreibmaschine und sagte, man solle die Post holen, sie sei angekommen. Der Schotte, wie gelähmt und ohne etwas zu begreifen, befahl mechanisch seinem Sohn nachzuschauen.
    Dieser fand den Briefhaufen neben seiner immer noch erstarrten Mutter und der am Huhn nagenden Köchin, die nichts bemerkt hatte, weil ihr alles gleichgültig war, holte einen Korb, füllte ihn mit Briefen und brachte, soviel er faßte, keuchend hinauf. Der Albino hieß ihn die Briefe ins Bassin werfen und die übrigen holen. Das im Bassin planschte weiter, ohne sich um die Briefe zu kümmern, die herumschwammen.
    Der Sohn kippte einen Korb um den ändern voller Briefe ins Schwimmbad, ohne hinzuschauen. Der Schotte stand da. Was er noch wolle, fragte der Albino, als der Sohn den letzten Korb Papiere gebracht hatte, und Vater und Sohn stiegen die Veranden hinab. »O my God«, stöhnte der Hotelier. Drei Tage 78
    lang kam der Postbote. Drei Tage lang wurde Korb um Korb Briefe ins Schwimmbassin gekippt. Er lag im Bademantel auf dem Bett und hörte dem Schreibmaschinengeklapper Gabriels, dem Rauschen des Regens und dem Schleifen der Palmblätter zu. Er hatte noch keinen Blick nach draußen geworfen. Was da schliff, begriff er nicht, was da rauschte, interessierte ihn nicht, was Gabriel schrieb, kümmerte ihn nicht. Ursprünglich hatte er ihm die Antwort auf die Briefe diktiert. Es waren auch nicht Briefe gewesen, sondern Steintafeln, und Gabriel hatte die Antwort, die ihm diktiert wurde, hineingemeißelt, dann brachte man Tontafeln, in welche die Antwort geritzt werden konnte, das ging schon schneller, die Hieroglyphen malte Gabriel auf Papyrus, Hebräisch schrieb er so schnell wie das Diktat, aber es kamen immer mehr Briefe. Aber da es alles Bettelbriefe waren, beantwortete er schon zu Beginn nur wenige, je nach Laune und immer abschlägig, doch oft mit so phantasievollen Ausreden, daß geglaubt wurde, er habe Hilfe zugesagt, endlich, des Diktierens müde, gab er Gabriel die Vollmacht, persönlich zu antworten, darauf, da Gabriel die Briefe zuerst lesen mußte, um sie zu beantworten, riet er ihm, die Briefe, die er beantworte, nicht zu lesen, später, als er längst vergessen hatte, daß Gabriel ungelesene Briefe beantworten sollte, hatte auch Gabriel vergessen, was seine Aufgabe war, und schrieb sinnlos die Tastatur der Schreibmaschine hinunter und hinauf. Mit einem Finger. Zuerst hatte er noch das Blatt gewechselt und in ein Couvert gesteckt, mit einer Adresse versehen, die ihm gerade einfiel, dann war er bei dem stets gleichen Blatt geblieben, darauf schrieb er ohne Blatt, endlich auch ohne Band, schließlich klimperte er nur noch, es genügte dem Großen Alten, daß er klimperte. Es kam ohnehin immer mehr Post, wenn auch nur der geringste Teil der Post, weil die Post nicht mehr wußte, wo er sich aufhielt, so daß die Briefe, die an ihn gerichtet wurden, jahrelang unterwegs waren. So war es 79
    reiner Zufall, daß ein Brief der Witwe Hungerbühler zu ihm gelangte. Nicht, daß er ihn gelesen hätte, er hätte ihn auch gar nicht verstanden, hatte er doch längst alles vergessen, das Kurhaus, das er gekauft hatte, Moses Melker, dessen Theologie ihn belustigt hatte, wußte er doch nicht einmal, wo er war, in welchem Sonnensystem, in welcher Galaxis, in

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