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Durcheinandertal

Durcheinandertal

Titel: Durcheinandertal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Hudson ging auf sein Konto, sie hatten immer geglaubt, der Verkohlte gehöre zum Syndikat des Großen Alten. Auf wessen Befehl hatte Marihuana-Joe gehandelt? Sie kannten die Gerüchte, die umgingen. Mißmutig spielten sie bei verhängten Fenstern Karten, rauchten, pokerten, sahen Pornofilme, von Kücksen hatte aus dem Vorfall mit Wanzenried seine Lehre gezogen und die Klassiker entfernt. Er selber hauste im Westturm inmitten seiner echten und unechten Fälschungen. Bald war Oskar bei ihm, bald Edgar. Er war von Raphael, Raphael und Raphael hinbefohlen worden. Er solle aufpassen, das Syndikat traue Wanzenried nicht mehr. Doch war die Langeweile auch ohne Klassiker nicht zu vermeiden. Alle versanken wieder in 82
    einer See des Gähnens. Dazu stellte sich der Winter nicht ein.
    Statt Schnee Föhnstürme, unerträgliche Wärme, unsägliche Trockenheit. Der Wald schien zu verdorren. Keiner wagte sich zu rühren. Hinter dem Kurhaus rezitierte Fronten die stets gleichen Gedichte: ›Harzreise im Winter‹, ›Prometheus‹,
    ›Grenzen der Menschheit‹, die ›Elegie‹ und immer wieder die
    ›Urworte‹: »So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren, nur enger dran, als wir am Anfang waren.« Der Vollmond stieg auf, wanderte langsam über den Himmel, wurde im Dorf sichtbar. Big-Jimmy schlich sich aus dem Hotel in den Wald, vorbei am rezitierenden Schulmeister die Schlucht hinunter:
    »Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß, und daß du nie beginnst, das ist dein Los, dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe, und was die Mitte bringt, ist offenbar das, was zu Ende bleibt und anfangs war.« Elsi schaute nach dem Kurhaus hinüber. Es lag noch im Schatten, sie ließ das Fenster offen, trank warmen Föhn, der durch das Fenster drang, sah den Mond heranschwimmen, rund und mächtig, und Big-Jimmys Kopf verdunkelte den Mond. Elsi wollte schreien. Aber der Mond drehte sich um die Erde, und die Erde drehte sich um die Sonne, und auf der Erde war Vollmond, und auf dem Mond Neuerde. Alles geschah notwendig. Die Sonne spiegelte sich im Mond, und der Mond spiegelte sich in der Erde, und Big-Jimmy stieg ins Zimmer, und Elsi schrie nicht.
    Ob es notwendig war, daß anläßlich der Beerdigung eines viel jüngeren Altbundesrates zufällig ein Ständerat einen uralten Altbundesrat – eigentlich bloß, um ein Gespräch anzuknüpfen – fragte, wann eigentlich sich das Ehrenkomitee wieder einmal versammle, dem der Altbundesrat und er angehörten sowie andere, die er vergessen habe, ist eine andere 83
    Frage. Der Altbundesrat wußte keine Antwort, weil er überhaupt nichts wußte. Er kramte nach der Beerdigung in seinen Papieren. Er fand in einer Schublade die Zusammensetzung des Vorstandes einer Swiss Society for Morality. Er stellte zu seiner Verwunderung fest, daß er dessen Präsident war. Es war das letzte Ehrenamt, das er offenbar noch innehielt. Beunruhigt berief er den Vorstand ein. Dieser war ratlos, besonders als ein Ständerat nach endlosem Wälzen englischer Statuten, die er zufällig auf bewahrt hatte, herausfand, daß die Anwesenden kein Ehrenkomitee, sondern den Vorstand einer Swiss Society for Morality darstellten, ein Ableger einer Boston Society for Morality. Nun waren die Mitglieder des Ehrenkomitees, das eigentlich ein Vorstand war, Mitglieder so vieler Aufsichtsräte, daß sich kein Mitglied des Vorstands erinnerte, den Namen Boston Society for Morality je gehört zu haben, am besten sei es wohl, gesamthaft als Vorstand zurückzutreten, aber sich vorher zu informieren, was die von der Boston Society for Morality gegründete Swiss Society for Morality eigentlich sei. Der Vorstand bat den Altbundesrat, die notwendigen Schritte zu unternehmen, dieser bat den Ständerat, ihm die Statuten zu überlassen, und löste die Sitzung auf. Der Altbundesrat kam aus einfachen Verhältnissen. Er war lange Sekundarlehrer im Bernischen gewesen, war eigentlich unfreiwillig in die Politik geraten und gleichsam mechanisch, wie ein Stein in einer Lawine, wie er sich ausdrückte, auf den Bundesratssessel hinuntergewälzt worden. Als Sekundarlehrer sei er mehr gewesen. Nicht nur ein Bundesrat. Als solcher litt er besonders unter der Undurchsichtigkeit der Wirtschaft und ihrer Interessen. Er komme sich vor wie einer, der in absoluter Dunkelheit in einem Stellwerk die Weichen für Abertausende von Schnell-, Orts-, Extra- und Güterzügen zu stellen habe, so daß es kein Wunder sei, daß diese

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