Durchgebrannt - Roman
Knopf in die Nase gesteckt. Die Aktion führte zu einem hektischen Besuch in der Notaufnahme und endete mit einem Riesentheater, als wir wieder zu Hause waren.
Auf einmal erinnere ich mich, wie Sarah versucht hat zu vermitteln. Sie stand da, die blonden Haare zu zwei seitlichen Zöpfen geflochten, packte meinen Vater am Arm, zog ihn von mir weg und hielt ihm den Knopf hin: »Guck mal, Papa, ein Zauberknopf. Bei dem kann man nicht widerstehen. Gut, dass Flo ihn nicht runtergeschluckt hat, ich hätte das vielleicht gemacht.«
»So einen Unsinn machst du doch gar nicht«, hatte mein Vater gesagt, sich kopfschüttelnd gesetzt und sie auf seinen Schoß gezogen. Gemeinsam hatten sie den Knopf wie etwas wirklich Kostbares angesehen und in den Händen hin und her gedreht.
Ich wollte zu ihnen, wollte wieder dazugehören, traute mich aber nicht recht und setzte mich auf den Fußboden, wo ich mich wie eine Katze an Papas Beine drückte. Irgendwann strich er dann auch mir leicht geistesabwesend über den Kopf, was ich sehr tröstlich fand, nachdem er zuerst so zornig gewesen war.
Aus einem plötzlichen Bedürfnis heraus lege ich meinem fahrenden Vater locker die Arme um die Schultern. Er aber will gerade überholen und schüttelt sie ab.
»Ras doch nicht so, Manfred!«, sagt Mama immer noch leicht knatschig. »Hier ist 70. Das ist lebensgefährlich, wie du fährst.«
»Ich find's gut«, unterstütze ich ihn. »Schließlich möchten wir alle schnell zu Sarah.«
Im Auto wird geschwiegen. Oma Gabi wirft mir einen zweifelnden Blick zu und drückt dann kurz meine Hand. Ich weiß: Das stimmt und stimmt nicht. Mein Vater will zwar am liebsten rund um die Uhr bei Sarah sein und verbringt seinen ganzen Jahresurlaub im Krankenhaus. Gleichzeitig ist er immer extrem unruhig und unleidlich, wenn er hinfährt, weil er fürchtet, zum Arztgespräch gebeten zu werden und schlechte Nachrichten zu hören. Meine Mutter war bis vor Kurzem noch relativ tough drauf, aber so langsam verliert sie die Nerven, wird immer dünner und zappeliger, ein aufgeschreckter, zerrupfter Vogel. Ich schätze, es macht ihr zu schaffen, dass Sarah heute achtzehn wird und noch lange nicht gesund ist. Mama hatte ihr nämlich, als es mit der Krankheit losging, »versprochen«, an ihrem Achtzehnten hätte sie alles überstanden. Schön blöd, was zu versprechen, was man nicht beeinflussen kann. Gestern ist meine Mutter auch nicht wie sonst tagsüber bei ihr gewesen, stattdessen hat sie wie eine Wilde eingekauft und das Haus für die Gäste hergerichtet.
Also habe ich Sarah wenigstens elektronisch-telefonischen Beistand geleistet. Wir haben uns SMS geschrieben, wie wir's abends oft tun.
Leider gehen uns langsam die Themen aus. Früher hatten wir zum Beispiel Spaß daran, uns über Horrorfilme zu unterhalten, jetzt macht ihr jeder PupsAngst. Fußball ist als Gesprächsgegenstand auch nicht mehr ergiebig, weil sie meint, sie kann froh sein, wenn sie noch mal Tischfußball spielen kann, und der Vereinstratsch, ihr früheres Lieblingsthema, ist ihr mittlerweile völlig schnuppe. Man kann auch nicht mehr mit ihr streiten, weil sie ja krank ist und Krach sie psychisch belasten könnte. Für mich heißt das, ich muss sie wie ein rohes Ei behandeln. Nicht gerade meine Stärke.
Möchten wir also wirklich schnell zu Sarah? Zu der Sarah, die uns erwartet?
Sie ist ja kaum noch zu erkennen. Der Körper klapperdürr, die Augen tief liegend und schwarz umrandet, nur die Backen so komisch aufgedunsen, als hätte sie sich Bonbons reingestopft.
»Besorgst du mir 'ne Rolle in 'nem Horrorfilm?«, hatte sie gefragt, als meine Eltern kurz das Zimmer verlassen hatten.
Ich hatte nur gegrinst. »Was willst du denn sein? Alien?«
»Ein Mutant«, hatte sie geflüstert, »ein blutrünstiger Mutant, der die ganze Welt vernichtet.« Dann waren ihr die Augen zugefallen. Diese Rolle würde sie nie ausfüllen können, egal, wie extrem sie aussieht. Auch wenn sie mich manchmal mit ihrem Nettsein genervt hat, bleibt sie ja nett, und ich frage mich, ob es ein Zufall ist, dass sich ein bösartiger Krebs ausgerechnet einen durch und durch lieben Menschen ausgesucht hat.
Solange Sarah die gesunde »Große« war, war sie als Schwester sehr in Ordnung. Das lag vor allem auch daran, dass Sarah Linksaußen in der Mädchenfußballmannschaft war, mit ihr konnte man quatschen wie mit einem Kumpel. Klar war sie auch mädchenhaft zickig, aber nie so heftig wie unsere beiden Nachbarstöchter. Die fangen
Weitere Kostenlose Bücher