Dylan & Gray
deutlicher.
»Dylan«, sagt sie.
»Dylan«, probiere ich den Klang aus. »Ich heiße Gray.«
Halb erwarte ich, dass sie auch das schon weiß, aber sie zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen.
»Und dein Vorname?«
Ich verdrehe die Augen. »Das ist mein Vorname. Es gibt ja wohl niemanden, der zuerst den Nachnamen nennt, wenn er sich vorstellt.«
James Bond schon, widerspricht sie, und die meisten Ärzte. Und ziemlich sicher gibt es in Nordengland abgelegene Flecken, wo man noch immer karierte Anzüge mit Ellenbogenflicken und Bowlerhüte trägt und niemals den Vornamen benutzt.
Wovon quasselt sie eigentlich? Ich runzele die Stirn und argumentiere, dass keines dieser Beispiele auch nur im Entferntesten mit mir zu tun hat.
Dylan will wissen, welche Geschichte hinter meinem Namen steckt. Sie lässt nicht locker, also gebe ich seufzend nach und erzähle zum hundertsten Mal, dass meine Mom an der Nordküste von Oregon geboren wurde, wo es jeden Tag regnet. Der Himmel ist grau, das Meer, die Landschaft – sogar die Luft ist ständig mit dickem grauen Nebel gefüllt. Meine Mom hat mich nach dieser Farbe benannt, weil es sie an ihr Zuhause erinnerte. Ich hatte gehofft, dass ich mich irgendwann an den Namen gewöhnen würde. Leider bin ich zu oft gezwungen, wildfremden Leuten zu erklären, dass meine Mom bei der Taufe nicht unter Drogen stand. Dylan behauptet, sie finde den Namen toll. Weil er einzigartig sei. Okay, das bekomme ich von Mädchen öfter zu hören, was immerhin ein Plus ist.
»Gray«, summt sie und lässt es klingen wie einen Songtitel. »Blue-eyed Gray.«
»Also, was willst du von Phoenix sehen?«, frage ich, um das Thema zu wechseln.
»Alles«, sagt sie. »Fahr mich einfach überall hin.«
Ich sage vielen Dank für diese hilfreiche Antwort und entscheide, sie zu der Shoppingmeile zu führen, von der anscheinend alle Mädchen magisch angezogen werden. Mill Avenue bietet endlose Boutiquen, in denen eine Jeans mehr kostet als eine durchschnittliche Monatsmiete. Die Restaurants haben Stoffservietten und Balustraden zu bieten, von denen man auf die Welt herabschauen kann, während man seinen Dreißig-Dollar-Salat genießt. In den Cafés gibt es garantiert biologischen, fair gehandelten, frisch gerösteten, perfekt aufgebrühten, mit Goldstaub berieselten Gourmetkaffee. (Okay, den Goldstaub habe ich erfunden, aber überraschen würde es mich kein bisschen.) Eine Tasse für fünf Dollar. Erleben Sie das sanfte Aroma einer Heißgetränk-Abzocke.
Ich parke den Wagen am Straßenrand vor einem Sushi-Restaurant. Durch die Autofenster starren wir auf die Außenterrasse, die von einer Sprinkleranlage besprüht wird, um der kochenden Wüstenluft eine mediterrane Atmosphäre zu geben. Viele Mittagsgäste sitzen dort, die Frauen tragen Sonnenbrillen, die wie riesige Fliegenaugen aussehen, und die Männer hätscheln ihre BlackBerry Smartphones.
Dylan wendet sich zu mir um und wartet. Ich nicke in Richtung der Einkaufsmeile und wünsche ihr viel Spaß. »Wir treffen uns dann in einer Stunde wieder«, sage ich. Während sie haufenweise Geld verpulvert, kann ich mich irgendwo im Schatten verkriechen. Ihr Lächeln verflüchtigt sich und sie sieht mich so enttäuscht an, dass ich mich breitschlagen lasse, ein paar Blocks mitzugehen.
Wir schlendern den Bürgersteig entlang. Ihre Kamera wippt an einer schwarzen Kordel gegen ihren Bauch. Ich frage mich, ob ich erwähnen soll, dass sie wie eine typische Touristin aussieht. Doch obwohl ich sie noch nicht allzu lange beobachten konnte, weiß ich eines mit Sicherheit: Ihr ist es vollkommen egal, was die Leute von ihr denken. Kaum jemand hat einen angeborenen Anti-Kritik-Schirm, der empörte Blicke einfach abgleiten lässt. Aber Dylans Schutzschild ist dick wie Panzerglas.
Wir betrachten Schaufenster, die uns mit Angeboten und vollgehängten Kleiderstangen zum Kauf locken wollen. Ich erwarte, dass Dylan sich auf die Läden stürzt, aber stattdessen schaut sie sich die Leute an. Die Straße ist gesäumt von schmuddeligen Gestalten. Abgekämpft betteln sie um Geld und Essen. Manche spielen auf ramschigen Instrumenten, andere haben magere Hunde um die Füße liegen. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich obdachlose Hundebesitzer sehe. Sie können kaum sich selbst ernähren, was für Abfälle verfüttern sie wohl an ihre Tiere? Vielleicht will ich es gar nicht wissen.
Während wir die Straße entlanggehen, löchert mich Dylan mit Fragen. Nicht der übliche Smalltalk: Welchen
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