Dylan & Gray
in all seiner Pracht abzulichten?« Ich lasse mich auf den Autositz fallen und sie steigt ebenfalls ein. Schweigend hocken wir einen Moment nebeneinander und versuchen uns an die Hitze zu gewöhnen.
»Sarkastisch. Gut zu wissen«, sagt sie gedankenvoll, als würde sie meine Charaktereigenschaften auf einer inneren Strichliste abhaken.
Ich greife nach meiner Wasserflasche und trinke einen Schluck. Als ich fertig bin, nimmt sie mir einfach die Flasche aus der Hand und setzt sie an die Lippen. Also bin ich nicht nur ihr Chauffeur und Stadtführer, sondern auch noch ihre persönliche Minibar? Kopfschüttelnd lasse ich den Wagen an und die Klimaanlage erwacht mit einem Brüllen zum Leben. Es fühlt sich an, als würde man Kaminglut direkt ins Gesicht geblasen bekommen. Aber wenigstens gibt es überhaupt einen Luftzug. Meine Beifahrerin macht es sich gemütlich, indem sie ihre dünnen Beine ausstreckt und einen schmutzigen Turnschuh auf dem Armaturenbrett absetzt. Ich hebe die Augenbrauen und frage, ob sie es bequem genug hat. Vielleicht möchte sie auch noch ein Kissen und einen Erdbeercocktail?
Sie bedankt sich höflich und versichert, dass es ihr bestens geht. Mit zusammengepressten Lippen kämpfe ich ein Lächeln nieder. Sie soll sich bloß nicht einbilden, dass ich sie unterhaltsam finde. Wir verlassen den Parkplatz und fahren erst einmal auf den Highway in Richtung Tempe, einer Vorstadt in der Nähe von Mesa und Scottsdale. Phoenix ist ein ausgedehnter Moloch, umgeben von Wohngebieten, in denen sich Pendler niedergelassen haben.
Das Mädchen redet ungebremst weiter. Sie lässt mich wissen, dass sie noch keine Geschichte hat, die sich zu erzählen lohnt, und genau deshalb für den Sommer hierhergekommen ist. Auf der Suche nach einer Story für ihr Leben. Angeblich liegt es nämlich in unserer Hand, wie unsere Geschichte am Ende aussieht. Vielleicht wird unser Leben eine Kitschromanze, vielleicht ein Krimi oder ein Entwicklungsroman. Vielleicht passt es auf ein einziges Blatt Papier, wie ein Pamphlet, oder wächst zu einer mehrbändigen Serie.
»Hauptsache, meine Geschichte wird außergewöhnlich«, sagt sie. Ich hebe eine Augenbraue und wünsche ihr viel Glück.
»Wie lange spielst du schon Gitarre?«, fragt sie plötzlich und ich bekomme das ungute Gefühl, dass dieses Mädchen tatsächlich gestört ist. Kutschiere ich gerade eine Stalkerin durch die Stadt?
»Woher weißt du das?«
Meine scharfe Frage lässt sie nur mit den Schultern zucken, als sei die Antwort offensichtlich. »Deine Hände«, sagt sie. »Du hast Hornhaut an den Fingerkuppen der linken Hand.«
Ich starre auf meine Finger und bin beeindruckt von ihrer Beobachtungsgabe. Tatsächlich hat das stundenlange Üben die Haut verschorfen lassen. An einer Stelle schält sie sich, und wenn ich allein wäre, würde ich mit den Zähnen daran herumzupfen.
Das Mädchen mustert meine Hände noch genauer und stellt fest: »Sieht aus, als würdest du ziemlich oft spielen.« Dazu sage ich nichts, denn sie hat recht. Ich beschäftige mich mehr mit meiner Gitarre, als ich zugeben möchte – vier bis sechs Stunden pro Tag. Der Gedanke, dass ich die engste Beziehung in meinem Leben mit einem Saiteninstrument führe, ist ein bisschen deprimierend. Aber wenn ich mich in die Musik flüchte, kann ich meinen Eltern aus dem Weg gehen.
Ich schaue das Mädchen an und stelle mir vor, wie sie mich gerade mit ihren Gedanken durchleuchtet (eine typisch weibliche PSI -Kraft) und zu folgendem Ergebnis kommt: Er hat keinen Ehrgeiz und hängt den ganzen Tag nur rum. Freunde hat er anscheinend auch nicht …
Heute auf dem Campus dachte ich, ihre Augen seien schlicht braun, aber jetzt stelle ich fest, dass es nicht so einfach ist – außen sind sie dunkelbraun, innen goldbraun und um die Iris herum gibt es einen unverkennbaren Ring aus Blaugrün. Ihre braunen Haare bekommen einen rötlichen Schimmer, wenn die Sonne darauffällt. Sie hat Dutzende von Sommersprossen um die Nase und ein Grübchen in der linken Wange. Die unteren Vorderzähne stehen ein bisschen schief. Sie ist ungeschminkt, soweit ich erkennen kann, und benutzt nur den Labello, mit dem sie sich gerade die Lippen einfettet. Aus der Ferne fand ich sie immer nichtssagend und höchstens etwas seltsam. Doch nun muss ich feststellen, dass etwas an ihr den Blick einfängt und nicht wieder loslässt.
»Wie heißt du?«, frage ich, weil es mich zum ersten Mal interessiert. Sie grinst mich an und das Grübchen wird noch
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