Dylan & Gray
eine vollständige Mahlzeit zu essen. Als würde ihre Geheimdiät darin bestehen, das Leben in möglichst rasanter Geschwindigkeit zu genießen.
Ich schaue auf meinem Handy nach der Uhrzeit und runzele die Stirn. Natürlich muss das Mädchen genau den Weg blockieren, der zwischen mir und der Abteilung für Sprach- und Literaturwissenschaft liegt. Ich könnte um sie herumgehen, andererseits habe ich noch nie jemanden gesehen, der mit solcher Hingabe einen Gehweg fotografiert. Ich will wissen, was an dem Campusboden so spannend ist, dass sie fast die Nase daraufpresst. Also stehe ich auf und nähere mich ihr vorsichtig wie einem wilden Tier, das unerwartet beißen oder kratzen könnte. Noch immer liegt sie bäuchlings ausgestreckt, hat sich auf den knochigen Ellbogen abgestützt und hält die Kamera mit beiden Händen absolut still. Ich bin sicher, dass sie meine Schritte gehört haben muss.
»Komm nicht näher«, warnt sie mich plötzlich. Ich bleibe einige Meter entfernt stehen und der Wind wirbelt den Sand um uns auf. Aus ihrem geflochtenen Zopf haben sich einige braune Haarsträhnen gelöst und wehen ihr ins Gesicht. Ich schaue missmutig auf sie herab, weil sie einen öffentlichen Gehweg blockiert.
»Du liegst mir im Weg«, sage ich. Meine Kehle ist trocken, sodass meine Stimme kratzig und rau klingt. Sie wendet ganz langsam den Kopf und schaut mich mit einem ernsten, durchdringenden Blick an, als sei sie auf einer heiligen Mission.
»Still, sonst verscheuchst du sie noch«, flüstert sie. Ihre Augen huschen in eine bestimmte Richtung und ich folge ihrem Blick. Der Weg ist leer. Weit und breit rührt sich nichts. Ich betrachte das Mädchen besorgt. Vielleicht ist sie schizophren. Vielleicht hat die Wüstenhitze ihr Gehirn verbrutzelt (zumindest die rechte Logikhälfte) und jetzt leidet sie unter Wahnvorstellungen. Ich hebe einen Fuß, um vorsichtig zurückzuweichen, aber da entdecke ich plötzlich nur Zentimeter vor dem Gesicht des Mädchens zwei blassgrüne Geckos. Sie haben einander die Köpfe zugewandt, als würden sie sich unterhalten.
Ich stehe ganz still und sehe zu, wie das Mädchen mit sorgfältiger Präzision an der Kamera dreht und die Schärfe einstellt. Sie drückt den Auslöser und ich höre ein leises Klicken.
»Hab sie!«, sagt das Mädchen, steht auf und klopft sich den Sand von der Jeans. Sie ist größer als ich dachte und reicht fast an meine 185 cm heran.
»Gar nicht einfach, die Kerlchen zu überzeugen, dass sie stillhalten sollen«, sagt sie und lächelt mich mit ihren hellbraunen Augen an. »Die sind furchtbar kamerascheu.«
Ich mustere sie von Kopf bis Fuß. Sie stammt definitiv nicht aus Phoenix. Ich tippe auf den Mittleren Westen oder die Ostküste.
»Du bist ganz schön weit weg von zu Hause, oder?« Ihre Haut ist voller Sommersprossen, aber nicht so dunkel wie bei uns Einheimischen. Wenn man täglich von der Arizona-Sonne gegrillt wird, hört das Melanin nicht mal im Winter auf, Bräune zu produzieren.
»Wieso?«, fragt sie und schaut mit schmalen Augen zu mir hoch.
Weil du dich benimmst, als hättest du nicht alle Tassen im Schrank.
»Weil man hier nicht viele Leute sieht, die sich auf kochend heißem Beton ausstrecken, um eine Nahaufnahme von zwei Geckos zu machen«, lasse ich sie wissen. »Die Viecher sind überall.«
Sie schaut sich um, ob vielleicht noch mehr Lurche in der Nähe lauern. »Ja schon, aber sie sind so zutraulich. Ständig wuseln sie um meine Füße und wollen Fangen spielen.« Sie stülpt einen Deckel auf das Kameraobjektiv. »Ich bin für die Sommerferien hier«, beantwortet sie meine frühere Frage. Ich hebe die Augenbrauen. Normalerweise würde ich schon gar nicht mehr hier stehen, denn Small Talk ist nicht meine Sache. Aber dieses Mädchen wird mit jeder Minute bizarrer.
»Sommerferien in Phoenix?«, frage ich und sie grinst über meine geschockte Stimme. Die meisten Leute fliehen um diese Jahreszeit aus unserer Wüstenregion, außer sie mögen das Gefühl knusprig gebratener Haut oder schließen sich gerne den ganzen Tag in einem Riesenkühlschrank ein, den man gemeinhin als Klimaanlage bezeichnet.
»Ich wollte schon immer die Wüste sehen«, sagt sie und hebt das Kinn. »Hast du nach dem Unterricht was vor?« Die Frage kommt so selbstbewusst heraus, dass mir der Mund offen stehen bleibt. Bildet sie sich ein, dass ich hier stehe, weil ich mit ihr sprechen will? Ist ihr nicht klar, dass sie einfach nur meinen Weg blockiert hat?
»Äh«, stammele
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