Dylan & Gray
Abenddämmerung und von Nahem betrachtet ist es noch eindruckvoller. Ziemlich schwer, sich wieder loszureißen. Aber vor allem faszinierte mich, dass seine Augen die Welt nicht zu sehen, sondern abzublocken schienen. Wie verspiegelte Brillengläser. Als ich ihn versuchsweise anlächelte, kam nichts zurück. Er nickte nicht einmal. Stattdessen wandte er sich ab, weil ich die Aufdringlichkeit besessen hatte, in sein Blickfeld zu geraten.
Gerade weil er sich so anstrengt, unsichtbar zu wirken, hebt er sich in meinen Augen vom Rest der Menge ab. In den letzten zwei Wochen habe ich eine ganze Reihe von Beobachtungen gemacht:
Er lächelt nie. Ohne Ausnahme. Manchmal nickt er Leuten zu, die an ihm vorbeikommen. Manchmal benutzt er das Handy und schreibt SMS . Ich habe ihn auch noch nicht wütend gesehen. Er zeigt überhaupt keine Gefühle, sondern wirkt wie betäubt. Als würde ein Teil von ihm fehlen. Wieso lächelt dieser Junge nie? Hat er eine fiese Zahnklammer? Eine Gesichtsmuskellähmung? Oder peinlich vorstehende Hasenzähne? Meine neue Mission ist, ihn zum Lächeln zu bringen. Auch wenn dieser Vorsatz den Schwierigkeitsgrad einer Polarexpedition hat. Man kann erst feststellen, ob unter den Eisschichten Leben verborgen ist, wenn man sich geduldig hindurchgehackt hat.
Er geht anderen Menschen aus dem Weg. Für dieses Verhalten fallen mir verschiedene Erklärungen ein: Er spielt gerne cool und unnahbar. Er ist ein asozialer Griesgram. Er hat eine ansteckende Hautkrankheit, die er nicht verbreiten will. Wie lautet wohl die richtige Theorie? Warum entscheidet sich jemand, ganz für sich zu bleiben? Ich bin entschlossen, die Lösung des Rätsels zu finden. Denn das Leben ist für mich eine endlose Entdeckungsreise auf der Suche nach dem »Warum«.
Er ist sexy, aber nicht auf die typische Art. Die Straßen von Phoenix sind gepflastert mit gestylten Jungs, als hätte jemand sie wie Glitterdeko über die Stadt verteilt. Überall sieht man Tattoos, stachelige Gelfrisuren, Muskelshirts und aufgeknöpfte Hemden, die bronzefarbene Haut und sonnengebleichtes Brusthaar zur Schau stellen. Er dagegen trägt kurze Sporthosen, Baseball-Shirts und Flipflops. Da haben wir etwas gemeinsam. Er ist nicht darauf aus, Leute zu beeindrucken. Kann ja sein, dass er nicht der kontaktfreudigste Typ der Welt ist, aber wenigstens ist er echt.
Er ist verrückt nach Musik und hat immer irgendwelche Songs über seinen iPod laufen. Manchmal gerät er davon richtig in Trance. Und ich habe ihn noch nie ohne seine Baseballkappe gesehen, hinter der er sich verbirgt, als könne sie ihn von der Welt abschirmen und zum Verschwinden bringen.
Ich ziehe den Reißverschluss meines Rucksacks auf und hole meinen Brainstormer heraus (ein Notizbuch in handlicher Größe, das ich immer mit mir herumschleppe). Darin blättere ich, bis ich bei meiner Liste mit guten Vorsätzen fürs Jahr angekommen bin. Ich habe mir für jede Woche ein anderes Ziel gesetzt und bisher ist es mir gelungen, alle einzuhalten. Die Aufgabe für diese Woche lautet: Freund(in) finden. Ich blinzele gegen das gleißende Sonnenlicht, das den Betonplatz erhellt. Zwei Mädchen gehen vorbei und ihre Stöckelschuhe klackern laut auf dem Asphalt. Sie werfen einen Blick in meine Richtung, mustern meine Jeans und Adidas-Schuhe, und ich kann regelrecht hören, wie bei dieser Modesünde die Alarmsirenen in ihrem Kopf losjaulen.
Sich in Phoenix mit jemandem anzufreunden ist keine leichte Wochenaufgabe. Aber ich habe schon länger heimliche Bewerberrunden abgehalten – den Leuten bei ihren Gesprächen zugehört, ihre Körpersprache beobachtet und darauf gewartet, dass jemand auftaucht, der mein Interesse weckt.
Ich schaue in Richtung des Gebäudes für Sprach- und Literaturwissenschaft und grinse, denn die persönliche Begegnung mit meinem Kandidaten hat mich überzeugt.
Dieser Typ ist perfekt.
Oberflächlich betrachtet hat er eine Persönlichkeit wie Schmirgelpapier, aber wenn ich ihn durch die Kameralinse in meinem Kopf betrachte, sehe ich Schichten und Kanten. Er erinnert mich an eine Sonnenliege … zusammengeklappt in der Abstellkammer. Ich werde dafür sorgen, dass er sich wieder entfaltet.
E rster Versuch
Gray
Lyrik ist fast so schlimm wie Mathe – eine unbekannte Sprache, die nur ein paar Auserwählte begreifen können. Ich habe den Kurs in Kreativem Schreiben belegt, weil ich ihn vielleicht brauchen kann, um mich später fürs College zu bewerben. Außerdem hatte ich gehört, dass die
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