Dystopia
Tätigkeit in der Regel tief eingraviert waren. Ein Namensschild aus Plastik konnte den Elementen wahrscheinlich Millionen von Jahren standhalten und immer noch leserlich sein, und Bronze war ebenfalls ziemlich langlebig. Langlebiger als die meisten anderen Metalle. Die Beliebtheit von Bronze in alter Zeit beruhte schließlich nicht zuletzt darauf, dass Rost ihr nichts anhaben konnte.
Ein einziger Name. Mehr brauchten sie nicht.
Nachdem sie die Birken umrundet hatten, bot sich ihnen ein ungehinderter Blick auf das Hochhaus. Es hatte die Jahre besser überstanden als die meisten anderen Bauten, die sie gesehen hatten. Sein Stahlskelett, obwohl schon braun vor Rost, war noch vollständig und stand weiter aufrecht. In sämtlichen Etagen war ein Teil der Betonfußböden nach wie vor intakt; ein Drittel vielleicht, grob geschätzt. Sogar die Überreste eines Treppenhauses konnte Travis im Gebäudeinneren erkennen, wo sich stabile Aufgänge aus Metall erhalten hatten. Woraus der im Vergleich zu seinen Nachbarn bessere Zustand des Gebäudes resultierte, war nicht schwer zu erraten. Es war jüngeren Datums. Erbaut im Jahr 2006, hatte es vermutlich Jahrzehnte weniger auf dem Buckel als die meisten Gebäude im Umkreis und war obendrein aus besserem Stahl errichtet, Ergebnis der Fortschritte, die in den Jahrzehnten vor seiner Erbauung auf dem Gebiet der Veredelungstechnik und Beseitigung von Unreinheiten bei der Stahlerzeugung gemacht worden waren. Trotzdem war und blieb es eine Ruine, die irgendwann einstürzen würde; fünf Jahre vielleicht, länger mochte der Zeitgewinn dank seiner höherwertigen Materialien wohl kaum betragen.
Sie kamen an der Grundmauer des Gebäudes an, die knapp einen Meter aus dem Boden emporragte und aus über einem Meter dickem Beton bestand. Sie spähten über den Rand: Die Grundmauer reichte nur ein Stockwerk tief in den Boden, aber der Hohlraum war zu einem Drittel mit einer Kompostmasse aus Laub und Geäst sowie etlichen Tonnen Gips gefüllt. Travis spürte seinen Optimismus schwinden: In einer solchen brusthohen Biomasse nach einem Namensschild von fünf mal zwanzig Zentimetern Größe zu suchen, war eine ernüchternde Vorstellung. Er musste an die berühmte Nadel im Heuhaufen denken. Dann fiel ihm etwas ins Auge, bei dem auch der letzte Rest Hoffnung in ihm erstarb.
Es war eine geschwärzte, etwa fünf Zentimeter dicke Holzplatte, von der in drei Metern Entfernung eine Ecke aus dem Müll emporragte. Ein verrostetes Scharnier war daran befestigt. Im freischwingenden Teil des Scharniers steckte noch eine einzige kurze Schraube. Sowohl die Schraube als auch das Scharnier waren verformt. Beide Teile waren nicht einfach nur verrostet und abgeblättert; sie waren verbogen und halb geschmolzen.
Irgendwann einmal musste da unten ein Feuer gewütet haben. Den massiven Fundamenten der Stahlträger hatte es zwar nichts anhaben können, alles Übrige aber war von der Hitze massiv in Mitleidenschaft gezogen worden. Die dicke Holztür, vermutlich aus Eiche, war vollkommen verkohlt. Travis fiel ein weiterer Vorzug ein, der Bronze seit jeher zugeschrieben wurde: wie leicht sie erhitzt und umgeformt werden konnte. Regen und Schnee und Schimmel mochten Namensschilder aus Kunststoff und Bronze vielleicht jahrtausendelang standhalten, einem Feuer aber, das heiß genug war, um Stahlschrauben zu verformen, hielten sie keine fünf Minuten lang stand.
Sie umrundeten das Gebäude einmal, um den Boden ringsherum abzusuchen. Sie fanden einige Scherben aus grünem Glas und Betonbrocken, die aus Fußböden stammten, aber nichts, was ihnen irgendwie hätte nützlich sein können. Nichts, worauf irgendein Name stand. Wind und Regen hatten von der ungeschützten Straßenseite her längst alles beseitigt, was leicht genug war, davongetragen zu werden. Travis malte sich meterdicke Kanalisationsrohre unter der Stadt aus, die mit jeder Art von Unrat verstopft waren.
Direkt neben den Stahlträgern an der Westseite des Gebäudes stand ein Ahornbaum, an dem sie hinaufkletterten. Sie gelangten in den ersten Stock, wo sie sich auf den Weg zum noch intakten Treppenaufgang in der Mitte des Gebäudes machten. Dabei vermieden sie es tunlichst, auf die von Rissen durchzogenen, teils bereits durchhängenden Betonflächen zu treten, die sich hie und da noch zwischen den Trägern hielten; zu riskant schien es, sie einer Belastungsprobe auszusetzen. Bei jedem dieser Böden würde die Tragekapazität irgendwann bei null angelangt
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