Dystopia
waren bereits eingestürzt.
Travis stellte sich im Stillen die unvermeidliche Frage: Hatte der Zusammenbruch der Welt irgendetwas mit dem zu tun, was er im Sommer vor zwei Jahren während seines Intermezzos bei Tangent erfahren hatte? In der Zeit seither hatte er sich angewöhnt, jeden Gedanken daran zu verdrängen, aber das kam jetzt nicht mehr in Frage. Die einzelnen Stichpunkte listeten sich wie von selbst vor seinem inneren Auge auf, und er ging sie in Gedanken der Reihe nach durch.
Im vorvergangenen Sommer war er, rein zufällig, wie es damals schien, mit Tangent in Berührung gekommen. Die Organisation befand sich zu dem Zeitpunkt in heller Panik, es waren die letzten Tage eines langjährigen Konflikts, der um ein Objekt kreiste, das bei ihnen den Namen «das Flüstern» trug. Das Flüstern hatte etwas von einer allwissenden Kristallkugel, wie sie in alten Märchen vorkam. Es verfügte über ein geradezu unheimliches Wissen, an dem es jeden teilhaben ließ, der es in der Hand hielt. Als Travis am Ende mit dem Flüstern allein war, auf der untersten Ebene von Border Town, hatte ihm das Ding einen ungefähren Einblick in seine Zukunft gewährt: in seine Schuld am Tod von zwanzig Millionen Menschen und den Umstand, dass Paige ihm einmal den Tod wünschen würde. All das erwartete ihn, irgendwie, auf einer möglichen Bahn seines künftigen Lebens. Irgendwo da draußen im Dunkel lauerte etwas, das ihn, irgendwann in den kommenden Jahren, zum Straucheln bringen und in etwas objektiv Böses verwandeln würde.
Aus ebendiesem Grund hatte er Border Town verlassen und sich für ein Leben als Hilfsarbeiter der einfachsten Art entschieden. Um auf diese Weise der Vorhersage des Flüsterns ein Schnippchen zu schlagen. Wenn er die nächsten vierzig Jahre Lagerregale auffüllte, wäre er niemals dazu imstande, eine Katastrophe auszulösen, wie das Flüstern sie ihm beschrieben hatte. Weil er schlicht nicht die Möglichkeit hätte, auf Geschehnisse dieser Größenordnung einzuwirken, ob im Guten oder Bösen.
Und damit war die Frage beantwortet: Das hier hatte mit ihm nichts zu tun. Hier ging es um etwas ganz anderes. Hier ging es nicht um 20 Millionen, sondern um 6 oder 7 Milliarden Tote, die ihr Leben ohne sein Zutun verloren hatten. Ganz einfach.
Er und Bethany kamen an den Kreisverkehr am Ende der Vermont Avenue und machten bei dem Café am nordöstlichen Quadranten halt, in dem sie vor nicht allzu langer Zeit gesessen hatten. Die Marmorfliesen der Terrasse türmten sich in Scherben um die Stämme von Kiefern und Ahornbäumen herum, die aus dem Erdreich hindurchgebrochen waren. Travis kamen die Frühstücksgerüche in den Sinn, das Stimmengewirr der Gäste an den übrigen Tischen, als sie von hier aus zu dem grünen Hochhaus hinübergeschaut hatten. Diese Erinnerung war kaum eine Stunde alt, doch hier und jetzt lag dieser Moment schon Jahrzehnte zurück.
Auf dem Gehsteig vor der Terrasse, an den Überresten des Bordsteins, stand eine Reihe verrosteter Gebilde, die einmal Zeitungskästen gewesen waren. Die Oberseiten waren von Rost durchlöchert wie Schweizer Käse, und die Türen waren längst herausgefallen. Von etwaigen Zeitungen, die sich am Ende noch in diesen Behältern befunden haben mochten, war längst nichts mehr übrig; Feuchtigkeit und Schimmel dürften dem Papier schon nach wenigen Jahren den Rest gegeben haben, selbst bei noch intakten Türen.
«Wie lauteten wohl die Schlagzeilen an jenem Tag?», sagte Bethany. «Wie sah die Titelseite der letzten Ausgabe der USA
Today
aus? Das würde mich interessieren.»
Travis konnte nur ratlos die Achseln zucken.
Nach einem letzten Blick in die Runde machten sie kehrt und setzten sich in Bewegung. Ihr Ziel war die Ruine des Hochhauses, die auf der anderen Seite des Kreisverkehrs fünfzehn Stockwerke in die Höhe ragte.
12
Der Plan war denkbar simpel: Bethany benötigte bloß einen einzigen Namen. Den Namen irgendeiner Person, die in der Gegenwart in diesem Gebäude beschäftigt war. Hatten sie erst diesen einen Anhaltspunkt, der weitere Nachforschungen ermöglichte, könnten sie schon in Kürze das FBI einschalten.
Irgendwelche Akten oder Computerlaufwerke waren in dieser Ruine wohl längst nicht mehr aufzutreiben, aber in einem Bürogebäude gab es noch andere Speichermedien, die die vergangenen Jahrzehnte vermutlich besser überstanden hatten. Zum Beispiel die Namensschilder an den Bürotüren, zumeist aus Kunststoff oder Bronze gefertigt, in die Name und
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