Dystopia
mochte ihr gerade durch den Kopf gehen? Wusste sie, dass er und Bethany sich gerade bemühten, sie zu retten – dass sie nicht so allein war, wie sie sich vorkommen musste? Nach einem Moment, in dem er seinen Gedanken freien Lauf gelassen hatte, zwang er sich, den Blick von der Ecke abzuwenden. Wenn sie ihr helfen wollten, durften sie keine Zeit vertrödeln.
Sie stiegen weiter die Treppe hinauf und sahen sich auf jeder einzelnen Etage um, ohne irgendetwas Interessantes zu finden. Als sie im vierzehnten Stock ankamen, befand sich nur noch die letzte Etage über ihnen, mit gerade einmal drei erhaltenen Betonflächen, die von allen Oberflächen in dem Gebäude Regen, Wind und Sonnenschein am schutzlosesten ausgesetzt waren. Während er die Decken über sich musterte, überlegte Travis, dass die Chancen, dort oben noch irgendetwas Nennenswertes vorzufinden, vermutlich gleich null waren.
Trotzdem nahmen sie auch noch die letzte Treppe in Angriff. Oben angelangt, sah er sofort, dass er sich geirrt hatte.
14
Auf zwei Flächen befand sich nichts. Sie waren ausgebleicht und von Wind und Wetter wie blankgescheuert, ganz wie erwartet.
Auf der dritten Fläche, halb zwischen dem Treppenaufgang und der Nordostecke des Gebäudes, stand ein eleganter Büroschreibtisch.
Er war aus edlem Kirschholz gefertigt. Die Arbeitsfläche maß einen mal zwei Meter. Er stand genau in der Mitte der Betonfläche und sah aus, als wäre er erst vor fünf Minuten aus einem Geschäft geholt und dort aufgestellt worden.
Travis war kurz völlig perplex. Dann wechselte er einen Blick mit Bethany, und sie machten sich über die Stahlträger auf den Weg, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Aus der Nähe wurde klar, was es mit dem scheinbaren Wunder auf sich hatte. Der Schreibtisch bestand gar nicht aus Kirschholz, sondern aus einem Kunststoff, der Kirschholz täuschend ähnlich sah. Und er war mit Bolzen am Boden befestigt. Von den Bolzenlöchern strahlten im Beton Risse in alle Richtungen aus, mutmaßlich vom Frost verursacht, die an manchen Stellen so breit aufklafften, dass Travis dazwischen das verrostete Gitter der Bewehrungsstäbe erkennen konnte. Von allen Fußböden, die er in dem Gebäude bislang gesehen hatte, machte dieser am ehesten den Eindruck, jederzeit einstürzen zu können – und das sogar ohne das Gewicht des Schreibtischs. Dass die Fläche dem Einsturz bisher widerstanden hatte, grenzte an ein Wunder.
An dem Schreibtisch befanden sich vier Schubfächer, zwei auf jeder Seite. Oben jeweils eine flache Tablettschublade, darunter tiefere Fächer für Hängeakten. Ihre Vorderseiten bestanden aus demselben Kunststoff, dem es zu verdanken war, dass der Schreibtisch hier oben so lange hatte überdauern können. Travis ging auf dem Stahlträger, der dem Schreibtisch am nächsten war, in die Hocke, um einen genaueren Blick auf die Schubfächer zu werfen. Sie waren fest geschlossen. Waren wahrscheinlich so konstruiert, dass man mit einem kräftigen Ruck daran ziehen musste, um sie zu öffnen. Dem Wind jedenfalls war das in all den Jahrzehnten nicht gelungen, denn Griffe oder ähnliche Angriffspunkte wiesen die Fächer nicht auf. Einst waren sie sogar durch Schlösser gesichert, von denen aber mittlerweile nur noch kreisrunde, rostüberwucherte Vertiefungen übrig waren.
Vier Schubfächer. Zwar nicht versiegelt, aber auf jeden Fall geschlossen. Vor Sonneneinwirkung war der Inhalt also geschützt gewesen. Regen allerdings und sonstige Feuchtigkeit dürften durch die Ritzen schon eingedrungen sein, Unterlagen aus Papier waren daher vermutlich längst vermodert und verschimmelt. In Schreibtischschubladen bewahrten Leute aber noch andere Sachen auf. Kreditkarten. Schlüsselanhänger und ähnliche Metallobjekte mit Gravuren.
Sie benötigten nur einen Namen.
Travis richtete sich wieder auf. Dann starrte er die bedenklich durchhängende Betonfläche an. Der Schreibtisch war nicht nur ein, zwei Schritte entfernt, man konnte sich also nicht blitzschnell umdrehen und Halt an dem Stahlträger suchen, falls der Boden plötzlich unter einem nachgab. Er stand gut zweieinhalb Meter vom Rand entfernt.
«Wie viel wiegen Sie?», fragte Bethany.
Travis schüttelte den Kopf. «Kommt nicht in Frage, dass Sie das übernehmen.»
«Ich wiege unbekleidet hundert Pfund. Was dagegen, wenn Sie sich umdrehen und meine Klamotten halten?»
«Sie bleiben schön hier. Ich gehe.»
Sie sah ihn an. «Müssen Sie jetzt wirklich den Ritter spielen, um Ihren
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