Dystopia
sein, dann folgte der Einsturz. Da so viele Flächen bereits eingebrochen waren, schien es ratsam, besser nicht mit dem Feuer zu spielen.
Sie gelangten zu dem Treppenaufgang und stellten fest, dass er noch stabil war. Die Stufen bestanden aus robustem, an die drei Zentimeter dickem Stahl. Keine der Treppen oberhalb von ihnen war eingestürzt oder hatte sich auch nur von dem Bauglied gelöst, an dem sie festgeschweißt war.
Sie traten den Aufstieg an.
In jedem Stockwerk machten sie kurz halt und sahen sich um. Nur besonders schwere Gegenstände waren vereinzelt noch auf den Betonflächen zurückgeblieben, darunter eine klobige Buchstütze aus Granit in Form einer halbierten kleinen Pyramide. Travis hob sie auf und sah, dass an der Unterseite Reste von Teppichfasern und Schaumstoff hafteten. Zu schwer, um vom Wind davongeweht zu werden, hatte der Klotz hier auf dem Boden gestanden, während ringsumher und sogar unter ihm alles verrottet war. Auch auf ein Paar Hanteln stießen sie, jeweils zehn Kilo schwer. Ob ihr einstiger Besitzer damit in seinem Büro sehr oft trainiert hatte, bezweifelte Travis im Stillen. Nun waren sie schon seit langer Zeit überhaupt nicht mehr angerührt worden.
Sie sahen einige einsame Türrahmen aus Stahl, die weiter aufrecht dastanden. Von den Türen jedoch fehlte jede Spur. Auch auf den Betonflächen: nichts. Vermutlich waren sämtliche Türen schon vor langer Zeit verwittert und in einzelne Stücke zerborsten, die dann bei heftigem Sturm in die Tiefe gewirbelt worden waren. In den letzten Jahrzehnten dürfte es mehrere Stürme dieser Art gegeben haben. Keine Türen und damit auch keine Namensschilder.
Im vierten Stock fiel ihnen am nördlichen Rand etwas silbrig Glänzendes ins Auge, und sie turnten auf den Stahlträgern hinüber, um der Sache auf den Grund zu gehen. Es war der Alufoliendeckel eines Joghurtbechers, der mit der Ecke unter einem umgekippten Papierkorb festklemmte – ein zwar nicht sehr großes, aber schweres, stilvolles Stück aus massivem Kalkstein.
Travis zupfte den Joghurtdeckel darunter hervor und hielt ihn hoch ans Licht. Jegliche einstige Beschriftung war in der Sonne längst restlos verbleicht.
Am Rand jedoch waren kleine Buchstaben und Ziffern in die Folie eingeprägt, die nach wie vor leserlich waren.
Der Text lautete:
mind. haltbar bis:
23
.
12
.
2011
.
13
Eine kurze Weile lang war nur der Wind zu hören, der durch den Wald rauschte. Den Wald, der das einstige Washington überwuchert hatte. Aus der Ferne hörte Travis das Krächzen einer Krähe, die irgendwo im Westen über den Baumwipfeln kreiste. Der federleichte Aludeckel zitterte kaum merklich im Wind, während Travis weiter auf das Haltbarkeitsdatum starrte.
«Das ist in vier Monaten –
unserer
Zeit.» Bethanys Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
«Ich esse nur selten Joghurt», sagte Travis. «Wie lange ist das Zeug normalerweise haltbar, wenn man es kauft?»
«So lange wie Milch. Drei oder vier Wochen. Der Joghurt dürfte also etwa Anfang Dezember herum gekauft worden sein. Diesen kommenden Dezember, in unserer Gegenwart.»
Travis nickte.
«Und solche Deckel hebt ja normalerweise niemand lange auf», sagte Bethany. «Wahrscheinlich landet der hier also irgendwann zwischen Anfang und Mitte Dezember im Abfall … und niemand kommt mehr, um den Papierkorb zu leeren. Lieber Gott,
in vier Monaten
geht die Welt unter?»
«Die Reinigungskräfte stellen also in spätestens vier Monaten die Arbeit ein», sagte Travis. «Und damit wohl auch alle anderen, schätze ich mal.»
Er ließ den Deckel los, und sie sahen ihm nach, während er in der Luft nach unten trudelte, ganz ähnlich wie die bunten Herbstblätter, die vor ihnen auf die Vermont Avenue hinabgesegelt waren.
«In vier Monaten …», wiederholte Bethany. «Alle, die ich kenne. Alle, die ich liebe. In vier Monaten …»
Travis kam unwillkürlich der Gedanke wieder in den Sinn, der ihn auf dem Herweg beschäftigt hatte: ob zwischen alldem hier und dem unheilvollen Potenzial seiner eigenen Zukunft, vor dem ihn das Flüstern gewarnt hatte, womöglich doch irgendein Zusammenhang bestand.
Nein, das hielt er weiterhin für ausgeschlossen. Dafür fiel ihm jetzt etwas anderes wieder ein: Das Flüstern hatte von einer Zukunft gesprochen, in der er zu Tangent gehörte, aber erst von einem Zeitpunkt an, der noch einige Jahre entfernt war. Wie sollte das je möglich gewesen sein, wenn die Welt im Jahr 2011 unterging?
Andererseits, war
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