Dystopia
Zusammenballung von Fahrzeugen erstreckte sich jenseits der äußeren Stadtgrenzen in alle Richtungen – ein Anblick, der aus dieser Höhe noch ungleich bestürzender und abstruser wirkte als vom Rand der Interstate aus, da der Horizont von hier oben noch viel entfernter war.
All das registrierten sie innerhalb weniger Sekunden, ohne sich länger damit aufzuhalten. Weil etwas ganz anderes ihre Aufmerksamkeit beanspruchte.
Die Stadt Yuma war übersät mit menschlichen Knochen.
In sieben Jahrzehnten hatte der Wind sie an allen nur möglichen Hindernissen zu hohen Haufen aufgetürmt. An Autos, Gebäuden, Gartenmauern, Pflanzenkübeln. Sie lagen überall, mit Ausnahme von freien, offenen Flächen wie etwa dem Teil des Parkplatzes direkt unter ihnen, den sie vom Erdgeschoss aus hatten sehen können. Von dort unten aus hatten sie bloß die Knochen weiter entfernt gesehen und irrtümlich für Sand gehalten.
Travis blickte hinunter zu dem Gebeinhaufen, der sich an der Fassade eines anderen Hotelflügels türmte, gut zwanzig Meter links neben dem Haupteingang. Selbst von hier oben aus konnte er genug Einzelheiten erkennen, um Erwachsenenschädel von Kinderschädeln und längere Rippen von kurzen unterscheiden zu können. Die Knochen waren schneeweiß, wie blankgescheuert. Alle, die draußen im Freien umgekommen waren, waren bald von Koyoten und Füchsen und Wildkatzen entdeckt worden, und was diese Tiere übrig gelassen hatten, war dann am Ende jahrzehntelang schutzlos Wind und Sonne ausgesetzt.
«Es sind wohl tatsächlich alle, nicht wahr?», sagte Bethany. «Sie haben es wirklich getan. Sie sind alle hergekommen und dann … einfach gestorben.»
Travis sah sie an. Ihr Blick verriet, dass ihr gerade ein neuer, schrecklicher Gedanke gekommen war.
«Vielleicht waren wir auch dabei», sagte sie. «Vielleicht liegen unsere Knochen auch irgendwo da draußen.»
Sie suchten die Stadt noch ein paar Minuten lang in alle Richtungen nach Anzeichen von Bewegung ab. Falls Finns Leute dort waren, hatten sie sich offenbar bereits an irgendwelchen Aussichtsposten verschanzt. Travis dachte darüber nach. Bis ihm ein eigentlich naheliegender Gedanke kam.
«Ich glaube, sie sind noch gar nicht hier.»
«Wie kommst du darauf?», fragte Paige.
«Ganz einfach: Wenn sie bereits vor uns hergekommen wären, hätten einige von ihnen schon hier an diesem Fenster Stellung bezogen.»
Es gab noch drei weitere durchgehende Fenster im fünften Stock, an den Enden anderer Gebäudeflügel. An jedem dieser Fenster nahmen sie sich einige Minuten Zeit, um die Stadt sorgfältig in Augenschein zu nehmen. Sie sahen zwar überall Knochen, aber nichts deutete darauf hin, dass diese vor kurzem bewegt worden waren.
Etwaige Anzeichen dafür, dass Yuma auf diesen Ansturm von Menschen irgendwie vorbereitet worden wäre, entdeckten sie ebenfalls nicht. Keinerlei Notunterkünfte oder Ähnliches. Falls in der Stadt Zelte errichtet worden waren, so waren sie wohl längst vom Wind davongewirbelt worden.
Dann kamen sie zu dem letzten Fenster, das nach Süden hinausging. Beim Blick hinaus wurde ihnen klar, wohin sie sich als Nächstes wenden mussten.
In einer Meile Entfernung war der Flughafen zu sehen. Die Rollbahnen befanden sich in tadellosem Zustand, kaum anders als in der Gegenwart vermutlich. Die Terminals standen glitzernd und leblos in der Wüstenlandschaft. An keinem einzigen der Gates war ein Flugzeug angedockt. Während Travis hinüberschaute, rätselte er, warum ihm der Anblick irgendwie merkwürdig vorkam. Dann ging ihm ein Licht auf: Das Flughafengelände war vollkommen leer. Es war die einzige größere Fläche meilenweit im Umkreis, die nicht mit Fahrzeugen zugeparkt war.
«Da steht etwas geschrieben.» Bethany deutete zum südlichen Ende der längsten Start- und Landebahn.
Travis sah, was sie meinte. Ein paar hundert Meter vor den großen Zahlen auf dem Beton, die die Richtung der Bahn angaben, hatte jemand eine Botschaft in riesigen weißen Lettern hinterlassen – vermutlich mit derselben Farbe, die der Flughafen zur Markierung der Pisten verwendete. Travis hatte sie zunächst übersehen, weil die Buchstaben von diesem schrägen seitlichen Blickwinkel aus kaum zu erkennen waren. Die Botschaft schien an Adressaten gerichtet zu sein, die von einem Flugzeug aus in die Tiefe schauten.
Travis setzte die Aussage mühsam Buchstabe für Buchstabe zusammen. Nach wenigen Sekunden wusste er, was dort stand.
Kommt zurück.
27
Eine Minute
Weitere Kostenlose Bücher