Dystopia
den Raum geflutet. Auf den Keramikfliesen in der Mitte des Raums lag eine Tote. Eine junge Frau um die zwanzig, blondhaarig und mit einer Brille mit rosa Gestell, bekleidet mit einem apricotfarbenen T-Shirt und einer kurzen Jeanshose. Ihre straff um ihre Knochen gespannte Haut hatte das spröde, matt schimmernde Aussehen von beige bemaltem Pappmaché. Sie lag auf der Seite, das Gesicht auf einen angewinkelten Unterarm gebettet, die Knie in Embryonalhaltung angezogen. Sie war hier drinnen ganz allein gestorben und von der trockenen Hitze mumifiziert worden.
Bethany atmete einmal tief ein und wieder aus. Dann sah sie sich auf einmal hektisch um und machte am Rand des Lichts, das vom Flur aus hereinfiel, die Waschbecken ausfindig. Mit zwei eiligen Schritten hastete sie hinüber und schaffte es gerade noch mit knapper Not, sich in eins der Becken zu übergeben. Der Brechreiz überkam sie in Wellen – zwei, drei, vier. Dann hielt sie vornübergebeugt inne und rang um Atem. Legte reflexhaft die Hand an den Wasserhahn und drehte ihn. Es kam nichts heraus.
«Scheiße», flüsterte sie.
Sie spuckte einige Male in das Becken und richtete sich dann endlich auf. Paige legte ihr fürsorglich einen Arm um die Schultern.
«Mir fehlt nichts», beteuerte Bethany.
Nicht sonderlich überzeugend, wie Travis fand, doch sie klang so, als könnte sie sich auf den Beinen halten. Sie müsste später damit fertig werden. Was für ihn und Paige genauso galt. Und bis dahin würde ihnen noch mehr begegnet sein, womit sie fertig werden müssten.
Sehr viel mehr, wie Travis feststellte, als er auf den Flur hinaustrat.
26
Der Flur im Erdgeschoss des Hotels war voller Leichen. War so dicht an dicht vollgezwängt mit Toten, dass sie sich sehr vorsichtig einen Weg hindurchbahnen müssten. Sie lagen in der Haltung da, in der sie gestorben waren. Auf der Seite, auf dem Bauch, auf dem Rücken, die Köpfe auf angewinkelte Arme oder zusammengerollte Kleidungsstücke gebettet. Einige saßen auch an die Wand gelehnt da, den Kopf auf die Arme gelegt, die sie auf ihren hochgezogenen Knien verschränkt hatten. Unter der pergamentartigen Haut ihres Nackens zeichnete sich erschreckend deutlich die Wirbelsäule ab.
Alle Altersstufen waren vertreten. Grauhaarige Senioren, junge Pärchen von Anfang zwanzig, vielleicht sogar noch Teenager, die sich im Tode umschlungen hielten, Kinder, die den Kopf auf den Schoß ihrer Eltern gebettet hatten. Neben der Tür zum Treppenhaus saß eine Frau, etwa um die dreißig, mit einem in eine Decke gehüllten Bündel im Arm. Sie war mit an die Wand gelehntem Kopf gestorben. Ihre verdorrten Gesichtszüge wirkten friedlich und gelöst. Travis klammerte sich an die Hoffnung, dass sie sich am Ende tatsächlich in dieser Gemütsverfassung befunden hatte, aber irgendwie zweifelte er daran.
Hier und da deuteten Bissspuren an unbekleideten Armen und Beinen darauf hin, dass die Leichen von Tieren angenagt worden waren. Die Schäden hielten sich aber in Grenzen; bis auf Ratten war es offenbar keinen größeren Tieren gelungen, in das Hotel einzudringen, zumindest in der ersten Zeit. Falls irgendwann später vielleicht doch noch größere Tiere des Wegs gekommen waren, hatte die Mumifizierung in der Zwischenzeit dafür gesorgt, dass die Toten als Nahrung nicht mehr in Frage kamen und daher verschmäht wurden. So hatte die Natur diesen Toten eher zufällig zu einem letzten Rest Würde verholfen.
Travis’ Blick landete auf einem jungen Pärchen, beide in den Zwanzigern, das sich auf einem Behelfslager aus Jacken und Hemden an der Wand eingerichtet hatte. Die Arme der Frau lagen schlaff über die Brust des Mannes gebreitet, er aber hielt sie mit beiden Armen umschlungen. Ihre Stirn ruhte an seinem Mund. Travis begriff: Sie war zuerst gestorben. Der Mann hatte seine tote Freundin weiter an sich gedrückt und ihre Stirn geküsst, und in dieser Haltung hatte er dagelegen, bis er schließlich selbst gestorben war.
Travis merkte, wie er feuchte Augen bekam, und blinzelte entschlossen dagegen an. Er wandte sich um. Auch Paige und Bethany hinter ihm an der offenen WC -Tür mussten sichtlich die Tränen zurückhalten.
Fast beiläufig musterte er den Zustand des Gebäudes: Es schien nahezu unverändert. Die Trockenbauwand in dem Flur sah nicht anders aus als in der Gegenwart. Lediglich der Hochglanzlack oben am Kranzprofil war an ein paar wenigen Stellen rissig und abgeblättert. Nicht mal Spinnweben waren zu entdecken. Da schon so lange
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