E-Book - Geisterritter
alle Schokoriegel gegessen, die Mam mir eingepackt hatte (neun, soweit ich mich erinnere, sie hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen), und jedes Mal, wenn ich aus dem Zugfenster blickte und alles vor meinen Augen verschwamm, redete ich mir ein, dass der Grund nicht Tränen, sondern die Regentropfen waren, die die Scheibe hinunterliefen.
Ich sag’s ja. Bedauernswert.
Als ich in Salisbury meinen Koffer aus dem Zug zerrte, fühlte ich mich zugleich abscheulich jung und hundert Jahre älter als bei meiner Abfahrt. Verbannt. Verstoßen. Mutter-, hund- und schwesternlos. Verflucht sollte der Vollbart sein. Als ich mir den Koffer auf den Fuß setzte, schickte ich ein Stoßgebet zur Hölle, dass es in Spanien irgendeine ansteckende Krankheit gab, die Zahnärzte tötete.
Die Wut fühlte sich viel besser an als das Selbstmitleid. Außerdem war sie eine nützliche Rüstung gegen all die fremden Blicke.
»Jon Whitcroft?«
Der Mann, der mir den Koffer aus der Hand nahm und meine schokoladenverschmierten Finger schüttelte, hatte im Gegensatz zum Vollbart nicht die geringste Spur von Bartwuchs. Edward Popplewells rundes Gesicht war so haarlos wie das meine (zu seinem großen Kummer, wie ich bald herausfinden würde). Seiner Frau dagegen sprießte ein dunkles Bärtchen über der Oberlippe. Alma Popplewell hatte auch eine tiefere Stimme als ihr Mann.
»Herzlich willkommen in Salisbury, Jon!«, sagte sie, während sie mir leicht schaudernd ein Taschentuch in die klebrigen Finger drückte. »Du kannst mich Alma nennen und das ist Edward. Wir sind die Hauseltern. Deine Mutter hat dir sicher gesagt, dass wir dich hier erwarten, oder?«
Sie roch so stark nach Lavendelseife, dass mir schlecht wurde, aber vielleicht lag das auch an den Schokoladenriegeln. Hauseltern … auch das noch. Ich wollte mein altes Leben zurück: meinen Hund, meine Mutter, meine Schwestern (wobei ich auf die auch manchmal hätte verzichten können) und meine Freunde an der alten Schule … keinen Vollbart, keinen bartlosen Hausvater und keine lavendelseifige Hausmutter.
Natürlich waren die Popplewells heimwehkranke Ankömmlinge gewohnt. Edward Bartlos pflanzte seine Hand fest auf meine Schulter, sobald wir den Bahnhof verließen, als wollte er jeden Gedanken an einen Fluchtversuch im Keim ersticken. Die Popplewells hielten nichts vom Autofahren (böse Gerüchte behaupteten, dass der Grund Edwards allzu große Liebe zum Whiskey war und der feste Glaube, dass ihm durch den regelmäßigen Genuss eines Tages doch noch ein paar Bartstoppeln sprießen würden). Was auch immer – wir gingen zu Fuß, und Edward begann, mir alles über Salisbury zu erzählen, was sich in dreißig Minuten Fußweg unterbringen lässt. Alma unterbrach ihren Mann nur, wenn er Jahreszahlen erwähnte, weil Edward die leicht durcheinanderbringt. Aber die Mühe hätte sie sich sparen können. Ich hörte eh nicht zu.
Salisbury, gegründet in den feuchten Nebeln dunkler Vorzeit, 50 000 Einwohner und 3,2 Millionen Touristen, die die Kathedrale anstarren wollen. Die Stadt empfing mich mit strömendem Regen und über den nassen Dächern reckte die Kathedrale ihren Turm wie einen mahnenden Finger in den Himmel. Herhören, Jon Whitcroft und alle Söhne dieser Welt! Ihr seid Dummköpfe, zu glauben, dass eure Mütter euch mehr lieben als alles andere auf der Welt!
Ich sah weder nach links noch nach rechts, während wir Straßen folgten, die es schon zur Zeit der letzten Pest in England gegeben hatte. Edward Popplewell kaufte mir auf dem Weg ein Eis (»Eis schmeckt auch bei Regen. Hab ich recht, Jon?«). Aber ich brachte in meinem Weltschmerz nicht mal ein Danke über die Lippen und malte mir stattdessen aus, wie sich Schokoladeneiskleckse auf seiner blassgrauen Krawatte ausbreiteten.
Es war Ende September und auf den Straßen drängten sich trotz des Regens die Touristen. Restaurants priesen Fish and Chips an, und das Fenster eines Schokoladenladens sah wirklich verlockend aus, aber die Popplewells steuerten auf das Tor in der alten Stadtmauer zu, das von Läden flankiert wird, die Kathedralen, Ritter und Wasser speiende Dämonen aus versilbertem Plastik verkaufen. Für den Anblick, der einen hinter dem Tor erwartet, kamen all die Fremden, die sich mit quietschbunten Rucksäcken und Lunchpaketen auf der Hauptstraße drängten, aber ich hob nicht mal den Kopf, als sich vor mir der Domhof von Salisbury auftat. Ich hatte weder einen Blick für die Kathedrale, deren Turm dunkel vom Regen war,
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