E-Book statt Papierkonserve
eine besondere Art der Kommunikation durch Zeichen, die erst im Zeitalter des World Wide Web richtig wichtig wird: die Möglichkeit einer direkten Antwort auf das Dargestellte. Was heute in Sekunden per Forum oder Chat online funktioniert, dauerte in der Höhle von Chauvet manchmal tausende von Jahren. Das zweite Tier, das spiegelverkehrt über das erste gezeichnet wurde, war die Antwort eines Altsteinzeitmenschen auf die Zeichnung eines Vorgängers. Und diese Antwort ist, da das Medium nicht nur der Stein, sondern die steinerne Höhle ist, für alle Besucher der Höhle sichtbar. Vielleicht ist das, was wir an den steinernen Wänden der Ardèche-Höhle finden, der erste schriftliche Diskurs von Menschen.
Für ein besseres Verständnis sollten wir diese Höhlenmalerei nicht bloß als einzelne Abbildung, als erste schriftliche Symbole des Homo sapiens betrachten. Wie im Falle der Darstellung mit den zwei sich überlappenden Tieren sollten wir uns fragen, wer mit den Bildern wem was sagen wollte und wie das ankam. Denn dann betrachten wir die Abbildungen an den Felswänden nicht mehr nur als einzelne Zeichen, als Bilder, die verschiedene Lebewesen darstellen, sondern sehen einen Ort, der über Jahrtausende der Versammlung und Verständigung von Menschen diente. Wir sehen heute nur noch die Bilder. Aber stellen wir uns vor, dass die Menschen der Altsteinzeit stumm vor den Darstellungen standen? Oder malen wir uns aus, wie sie Laute von sich gaben, gestikulierten? Wie einer von ihnen vielleicht einen Bärenschädel auf das Steinpodest hob und sich die anderen, erst zögerlich und dann gezielter, im Wissen um einen Ritus, versammelten? Darüber haben wir keine Informationen. Wir sehen nur noch die Abbildungen. Alles andere war zu flüchtig, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Wir wissen also, wer hier etwas mitgeteilt hat – Altsteinzeitmenschen brachten über einen langen Zeitraum von mehreren tausend Jahren die Zeichnungen an. Was sie mitteilen wollten, wissen wir im Grunde nicht. Wir verstehen es nicht, weil wir ihren kulturellen Hintergrund nicht kennen. An wen sich die Zeichnungen richteten, wissen wir auch nicht. Wir können nur vermuten, dass sie für die anderen Menschen, die die Höhle betraten, wichtig waren. Wie sie bei den anderen Steinzeitmenschen ankamen, wissen wir ebenfalls nicht. Allerdings sind die Malereien intakt. Niemand hat versucht, sie zu zerstören. Im Gegenteil: Die Höhle wurde immer weiter ausgeschmückt. Das deutet doch auf eine gewisse Akzeptanz hin.
Die Höhle von Chauvet hatte – vom heutigen Standpunkt aus betrachtet – zwei Funktionen: Zum einen diente sie der Kommunikation in einem öffentlichen Raum. Und zum anderen war sie ein Archiv. Die Steinzeitmenschen malten auf die Wände sorgsam Gestalten, die ihnen wichtig waren – so wichtig, dass sie sie für andere ihrer Art festhielten.
Menschen benutzen Zeichen, um etwas darzustellen oder auszudrücken. Das Symbol steht dabei nicht ausschließlich für den abgebildeten Gegenstand, sondern auch für etwas anderes. Im Falle der Höhlenmalerei sind es bildliche Darstellungen, die den frühen Menschen als Symbole dienten. Die Kunstwerke fassen Gedankengebilde in Bildzeichen. Dabei handelt es sich nicht um eine Sprache mit Syntax, Grammatik und abstrakten Zeichen, die voneinander abgegrenzte Bedeutungen haben. Es sind aber auch keine einfachen Piktogramme, bei denen etwa ein abgebildetes Wildpferd für ein reales Wildpferd steht. Es ist eine Ideenschrift, deren Kontext und Bedeutung wir nicht mehr erschließen können.
Symbolische Abbildungen wurden auch nach der Steinzeit noch häufig verwendet. Der Fries des Pergamon-Altars aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. ist ein Beispiel dafür. Er umfasst zahlreiche Figuren, die in Kampfhandlungen verwickelt sind. Jeweils ein Gott aus dem Umfeld des Zeus kämpft gegen einen oder mehrere Titanen. Dass es sich bei dem Fries um eine Gigantomachie, um eine Schlacht der Götter handelt, wissen wir, weil die Geschichte über die griechische Mythologie überliefert ist. Die einzelnen Götter können Betrachter anhand ihrer Darstellung und ihrer Nähe zu anderen für sie wichtigen Figuren erschließen. So steht die Jagdgöttin Artemis – mit einem Bogen bewaffnet – fast Rücken an Rücken mit ihrer Mutter Leto. Auf Letos anderer Seite steht Apollo, ihr Sohn, der Bruder der Artemis. Er kämpft, ebenfalls mit einem Bogen bewaffnet, gegen den Titan Ephialtes, der schon am Boden liegt. Die
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