E-Book statt Papierkonserve
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Eine andere beeindruckende Darstellung zeigt eine Tierhorde aus jagenden Löwen und flüchtenden Mammuts, Wollnashörnern und Bisons sowie ein Wildpferd. Diese Höhlenmalerei ist sehr dynamisch. Von rechts stürmen zehn Löwen ins Bild, die sich teilweise gegenseitig verdecken. Mit gestreckten Oberkörpern stürzen sie in zwei Reihen gestaffelt voran. Fünf von ihnen haben besonders markante Züge. So starrt der Löwe, der vom äußersten rechten Rand in das Bild hineinspringt, entschlossen geradeaus. Seine Augen fixieren ein Ziel, das weit vor ihm liegt. Direkt vor den Löwen rennen mehrere Tiere, darunter ein Bison, der über eine Felshöhe stürmt. Aus seinen Nüstern schießt eine Atemwolke hervor. Ein Mammut unterhalb des Bisons ist halb aufgerichtet, so als wolle es den Felsvorsprung erklimmen, der sich vor ihm erhebt. Die halb aufrechte Position verleiht dem Mammut etwas Menschliches. Unter dem Felsvorsprung, über den der Bison hinwegrennt, verharrt ein Höhlenpferd. Links von der felsigen Anhöhe sind alle Tiere wieder mitten im Geschehen. Eine Gruppe aus sechs Wollnashörnern stürmt von rechts nach links. Vor und unterhalb dieser Gruppe stellen sich zwei Wollnashörner der Fluchtbewegung entgegen. Die dramatischen Momente des Bildes sind also folgendermaßen komponiert: rennende Löwen, ein aufrechtes Mammut, ein schnaubender Bison, in zwei Richtungen strebende Wollnashörner und ein Wildpferd im sicheren Unterstand. Das Felsgemälde erzählt eine kleine Geschichte. In der Leserichtung von rechts nach links aufgezeichnet sehen wir die Löwen, welche die anderen Tiere verfolgen. Wir sehen das Höhlenpferd, das sich versteckt, und die Wollnashörner, von denen einige flüchten und andere sich den Löwen entgegenstellen. „Löwen auf der Jagd“ nannten französische Forscher das Bild. Es ist sicherlich eine der wichtigsten Kompositionen in der Höhle von Chauvet.
Die Menschen der Altsteinzeit benutzten natürliche Rohstoffe, Holz- oder Knochenkohle, roten und braunen Ocker, Mangan und Hämatit, oftmals aus ihrer direkten Umgebung, um die Malereien anzufertigen. Sie wählten einen besonderen Ort für ihre Darstellungen, der über einen langen Zeitraum hinweg beibehalten wurde. Und sie suchten offenbar Motive aus, die realistisch wirkten – so wie die Jagdszene auf dem Wandgemälde mit den Löwen. Teilweise stellten die Künstler der Steinzeit auch Szenen dar, die allein ihrer Phantasie entsprangen – wie der Kopf eines Bisons, der sich über den Unterleib einer Frau beugt. Das lässt an Picassos Minotaurus denken. So schufen die Maler in der Höhle eine Welt, die Elemente aus ihrer Umgebung übernahm, diese aber teilweise neu miteinander verband. Vielleicht gaben sie auch Elementen kultureller Riten, die schon im Miteinander der Steinzeitmenschen bekannt waren, einen dauerhaften Ausdruck.
Mit den Höhlenmalereien transzendierten die Menschen – wie mit vielen anderen Erfindungen auch – mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln das Gegebene. Sie nahmen die Abbildungen als Zeichen für etwas anderes und überschritten die Gegenwart zugleich in Richtung Zukunft und Vergangenheit: Sie hinterließen ihre Abbildungen einer unbekannten Zukunft und hielten das fest, was ihnen aus ihrer vergangenen Erfahrung heraus als bedeutsam erschien. Mit Abbildungen und Zeichen gaben sie ihrer erlebten Welt einen Ausdruck.
Auch wenn die meisten Zeichnungen und Gemälde in der Höhle von Chauvet realistisch wirken – sie bilden nicht einfach die Realität ab. Denn warum sollten die Höhlenmaler den Wildpferden, Wollnashörnern und Höhlenlöwen den Vorzug vor landschaftlichen Motiven geben? Wie kamen die Künstler dazu, gerade diese Auswahl zu treffen? Warum haben sie keine Hintergründe gezeichnet – ein paar Bäume, etwas Gras, einen Fluss –, sondern sich allein auf die Figuren der Tiere beschränkt? Noch dazu auf die Figuren bestimmter Tiere: Nashörner, Löwen, Mammuts und Pferde sind die häufigsten Motive.
Wenn sich heute ein Mitteleuropäer das oben geschilderte Gemälde anschaut, so sieht er ein Rudel Löwen, das den anderen Tieren hinterherjagt. Er sieht ein Wildpferd, das sich versteckt, Wollnashörner, die teils fliehen und sich teils dem Kampf zu stellen scheinen. Doch wir Heutigen wissen nicht, was dieses Gemälde für den Homo sapiens in der Altsteinzeit bedeutete. War für die Männer und Frauen damals der Löwe nur ein Löwe, das Pferd nur ein Pferd? Oder standen diese Tiere, allein und im
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