EB1021____Creepers - David Morell
ich da…« Amanda sah sich um. »Sirenen.«
Atemlos torkelten sie mit Vinnie vorwärts, an der Prome‐
nade entlang auf das Geräusch zu. Balenger kam es vor, als
gehörten seine Beine nicht wirklich zu ihm, aber er kämpfte
sich weiter, so wie Amanda es tat. Er sah sie an. Wie sehr er
sich wünschte, dass sie Diane war – oder dass er wenigstens
glauben durfte, sie sei Diane. Er musste es laut ausgesprochen
haben wie im Delirium, denn Amanda wandte sich ihm zu.
»Vergiss es nicht, ich bin nicht sie, aber mich hast du nicht ver‐
loren.« Sie erreichten eine Stelle, wo Stufen zur Promenade
hinaufführten. Sie stiegen erschöpft hinauf, umrundeten zer‐
brochene Planken, sanken auf die Knie und stiegen weiter. Das
Licht der Flammen wurde heller. Balenger spürte einen war‐
men Wind, der von dem Feuer herüberwehte. Dann war der
Wind heiß, obwohl Balenger nicht aufhören konnte zu zittern.
Die Sirenen verstummten. Feuerwehrleute sprangen aus ei‐
nem Auto. Polizisten kletterten aus ihren Dienstwagen. Die
obere Pyramide des Hotels stürzte ein. Funken flogen. Der
vom Feuer ausgehöhlte sechste Stock brach zusammen. Das
waren die Goldmünzen, dachte Balenger. Er erinnerte sich an
den Double Eagle in seiner Tasche. Die in seine Oberfläche
geprägten Worte: In God We Trust.
Polizisten rannten auf sie zu. Einer brüllte: »Was ist denn
euch passiert?«
Als Balenger zu Boden sackte, hörte er das deng, deng, deng
der schlagenden Metallplatte. Ein weiterer Teil des Gebäudes
stürzte in sich zusammen. Aber die Hölle hatte viele Stock‐
werke. Ebenso wie die Vergangenheit. »Was ist uns passiert?«,
murmelte er. Er brachte die Worte kaum heraus. »Das Paragon
Hotel.«
Nachwort
Besessen von der
Vergangenheit
Jeder Schriftsteller weiß, die Frage, die uns am häufigsten ge‐
stellt wird, lautet: »Wo kriegen Sie Ihre Ideen her?« Creepers.
Der Begriff selbst war mir bis vor kurzem vollkommen unbe‐
kannt, aber ich habe den größten Teil meines Lebens im Bann
der ihm zugrunde liegenden Idee zugebracht.
Als ich neun Jahre alt war, lebte meine Familie in einer en‐
gen Wohnung über einem Restaurant, dessen Gäste die Trin‐
ker aus den vielen Bars der Umgebung waren. (Es lag in einer
Stadt namens Kitchener im südlichen Ontario, Kanada.) Oft
hörte ich die Streitereien der Betrunkenen in einem Durchgang
unter dem Fenster meines Zimmers. Auch in der Wohnung
selbst wurde viel gestritten. Obwohl meine Mutter und mein
Stiefvater niemals handgreiflich wurden, machten die Ausei‐
nandersetzungen mir so viel Angst, dass ich in vielen Nächten
Kissen unter die Bettdecke stopfte, damit es so aussah, als
schliefe ich, während ich hellwach unter dem Bett lag.
Oft flüchtete ich aus dieser Wohnung und streifte auf den
Straßen herum, bis ich die Geheimnisse jedes Durchgangs und
jedes Parkplatzes im Umkreis von zehn Häuserblocks kannte.
Nachträglich wundert es mich, dass ich in diesen Örtlichkeiten
nicht in ernsthafte und möglicherweise tödliche Schwierigkei‐
ten geriet. Aber ich war ein Straßenkind und hart im Nehmen,
und das Schlimmste, was mir je zustieß, waren ein Katzenbiss
am Handgelenk und ein Nagel im Fuß – die allerdings jeweils
zu einer Blutvergiftung führten. Verlassene Gebäude – ein
Haus, eine Fabrik und ein Wohnblock – faszinierten mich. Die
eingeworfenen Fenster, die schimmelnden Tapeten, die abblät‐
ternde Farbe, der muffige Geruch der Vergangenheit lockten
mich immer wieder zurück. Das interessanteste Gebäude war
der Wohnblock, denn er war zwar verlassen, aber nicht leer.
Die Bewohner hatten Tische, Stühle, Geschirr, Töpfe, Lampen
und Sofas zurückgelassen. Das meiste davon war in einem so
üblen Zustand, dass offensichtlich war, warum es nicht mitge‐
nommen worden war. Trotzdem schufen diese Tische und
Stühle und Gefäße zusammen mit den Zeitungen und Zeit‐
schriften, die ebenfalls zurückgeblieben waren, die Illusion,
dass immer noch Menschen hier lebten – geisterhafte Über‐
bleibsel des Lebens, das einmal in dem Gebäude geherrscht
hatte.
Ich spürte all das mehr, als dass ich es verstand. Ich stieg
vorsichtig knarrende Treppen hinauf, umging heruntergefal‐
lenen Putz und Löcher in Fußböden, spähte in verlassene
Zimmer und staunte über die Entdeckungen, die ich machte.
Tauben nisteten auf Schränken. Mäuse hatten Nester in Sofas
gebaut. Schimmel wuchs an Wänden. Unkraut wucherte
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