Echo Einer Winternacht
Männer in Grau. Man brauchte nicht besonders intelligent zu sein, um zu erkennen, dass dies hier nicht mit dem Haus zu vergleichen war, in dem sie vorher gelebt hatten. Steinwände, schwere Holztüren mit Füllungen und Rundstäben, bunte Glasfenster auf dem Treppenabsatz. Das war ein Haus. Gut, dieser Kasten hier hatte mehr Zimmer, aber sie waren winzig und die Decken und Türen so niedrig, dass Weird mit seinen einsneunzig das Gefühl hatte, sich ständig bücken zu müssen.
Auch die Wände waren dünn wie Papier. Man konnte jemanden im nächsten Zimmer furzen hören. Was eigentlich ziemlich lustig war, wenn man es recht überlegte. Seine Eltern waren so gehemmt, sie würden eine Emotion nicht einmal als solche erkennen, wenn sie sie ins Bein beißen würde. Und doch hatten sie ein Vermögen für ein Haus ausgegeben, das allen die Privatsphäre nahm. Ein Zimmer mit Alex zu teilen schien ihm noch vorteilhafter, als bei seinen Eltern zu wohnen.
Warum hatten sie nie versucht, auch nur die Grundzüge seines Wesens zu verstehen? Er hatte das Gefühl, sein ganzes Leben nur aufbegehrt zu haben. Nichts von dem, was er erreichte, hatte sie je beeindruckt, weil es nicht zu den engen Vorstellungen von dem passte, was sie anstrebten. Als er zum besten Schachspieler der Schule ernannt wurde, hatte sein Vater missbilligend geäußert, er wäre besser dem Bridgeteam beigetreten. Als er gefragt hatte, ob er ein Musikinstrument spielen dürfe, schlug es ihm sein Vater rundheraus ab und bot ihm stattdessen Golf-schläger an. Als er in der High School jedes Jahr den Preis für die besten Leistungen in Mathematik bekam, war die Reaktion seines Vaters, dass er ihm Bücher über Buchführung kaufte. Er hatte einfach keine Ahnung. Mathematik hatte für Weird nichts mit dem Addieren von Zahlen zu tun, sondern für ihn war Mathematik die Schönheit der Kurve einer quadratischen Gleichung, die Eleganz der Infinitesimalrechnung, die geheimnisvolle Sprache der Algebra. Hätte er seine Freunde nicht gehabt, wäre er sich völlig wie ein Außenseiter vorgekommen. Sie hatten ihm eine Möglichkeit geboten, sozusagen gefahrlos Dampf abzulassen und seine Flugversuche zu machen, ohne gleich abzustürzen und zu verbrennen. Und als Dank dafür hatte er ihnen nur Kummer bereitet. Schuldgefühle kamen auf, wenn er an seinen neuesten verrückten Streich dachte. Diesmal war er zu weit gegangen. Es war zuerst nur ein Scherz gewesen, sich Henry Cavendishs Wagen zu schnappen.
Er hatte keine Ahnung gehabt, wohin das führen würde. Keiner der anderen konnte ihn vor den Folgen retten, wenn es herauskam, das war ihm klar. Er hoffte nur, dass er sie nicht mit sich in den Abgrund reißen würde. Weird schob seine neue Kassette von Clash in die Anlage und warf sich auf sein Bett. Er würde die erste Seite hören und sich dann zum Schlafengehen fertig machen. Um Alex und Mondo vor der Frühschicht im Supermarkt zu treffen, musste er um fünf aufstehen. Normalerweise hätte die Aussicht, so früh aufstehen zu müssen, ihn total deprimiert. Aber so wie die Dinge lagen, würde er froh sein, aus dem Haus zu kommen, und es wäre ein Segen, etwas zu haben, das ihm half, den ständig um das Gleiche kreisenden Gedanken zu entkommen. Herrgott, er wünschte, er hätte einen Joint.
Wenigstens hatte die unsensible Brutalität seines Vaters die immer wieder aufkommenden Gedanken an Rosie Duff verdrängt. Als Joe Strummer »Julie’s in the Drug Squad« sang, war Weird in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.
Karel Malkiewicz fuhr auch unter den günstigsten Umständen wie ein alter Mann. Zögernd, langsam und an den Kreuzungen vollkommen unberechenbar. Außerdem war er ein Sonntags-fahrer. Unter normalen Umständen bedeuteten die ersten Anzeichen von Nebel und Frost, dass er das Auto stehen ließ und den steilen Hügel der Massarene Road nach Bennochy zu Fuß hinunterging und einen Bus zur Factory Road nahm, wo er als Elektriker in einer Firma arbeitete, die Bodenbeläge herstellte. Schon lange war der Leinölgeruch verflogen, der der Stadt den Ruf eingebracht hatte, »komisch zu riechen«, aber obwohl Linoleum nicht mehr Mode war, bedeckten die Beläge aus Nairns Fabrik Millionen von Küchen-, Badezimmer-und Flurböden. Sie hatten Karel Malkiewicz ein gutes Auskommen ermöglicht, seit er nach dem Krieg aus der Royal Air Force ausgeschieden war, und dafür war er dankbar. Das hieß aber nicht, dass er die Gründe vergessen hatte, aus denen er Krakau verlassen
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