Echo Einer Winternacht
hatte. Niemand konnte diese vergiftete Atmosphäre von Misstrauen und Niedertracht ohne Verletzungen überleben, besonders ein polnischer Jude nicht, der das Glück gehabt hatte, vor dem Pogrom herauszukommen, dann aber ohne eine eigene Familie dastand. Er musste sich ein neues Leben aufbauen, selbst eine neue Familie gründen. Seine alte Familie hatte sich nie besonders streng an äußere Formen gehalten, so dass ihm seine Religion nicht allzu sehr fehlte. Er erinnerte sich, dass ihm jemand ein paar Tage nach seiner Ankunft in der Stadt erklärt hatte, in Kirkcaldy gebe es keine Juden. Es war klar, wie das gemeint war: »Und so ist uns das auch recht.« Also hatte er sich integriert, war sogar so weit gegangen, seine Frau in einer katholischen Kirche zu heiraten. Er hatte gelernt, wie er auf dieser merkwürdigen Insel, die ihn aufgenommen hatte, dazugehören konnte. Als vor kurzem ein Pole Papst wurde, hatte es ihn selbst überrascht, wie ihn das mit Stolz erfüllt hatte, wo er sich doch dieser Tage nur so selten als Pole sah. Er war fast vierzig gewesen, als der Sohn kam, von dem er schon immer geträumt hatte. Es war ein Grund zur Freude, aber dadurch lebte auch die Angst wieder auf. Jetzt hatte er so viel mehr zu verlieren. Dies hier war ein zivilisiertes Land. Die Faschisten konnten sich hier nie festsetzen. Das war jedenfalls die allgemein anerkannte Meinung. Aber Deutschland war auch ein zivilisiertes Land gewesen. Niemand konnte voraussagen, was in irgendeinem Land geschehen würde, wenn die Zahl der Besitzlosen ein gefährliches Niveau erreichte. Jeder, der Rettung versprach, würde Anhänger finden. Und in letzter Zeit hatte es durchaus Anlass zu dieser Befürchtung gegeben. Die National Front suchte sich im politischen Dickicht einen Platz. Streiks und Arbeitskämpfe machten die Regierung unsicher. Die Bomben der IRA lieferten den Politikern jeden Vorwand, den sie brauchten, um repressive Maßnahmen durchzuführen. Und das kaltherzige Weib, das die Tory-Partei führte, sprach davon, dass Einwanderer die einheimische Kultur überschwemmten. Oh ja, die Saat war gelegt.
Als Alex Gilbey angerufen und ihm gesagt hatte, sein Sohn hätte eine Nacht auf der Polizeiwache verbracht, gab es für Karel Malkiewicz nur eins: Er wollte seinen Jungen unter seinem Dach haben, unter seinem Schutz. Niemand würde kommen und ihm mitten in der Nacht seinen Sohn wegnehmen.
Er zog sich warm an und bat seine Frau, eine Thermosflasche mit heißer Suppe und ein paar belegte Brote einzupacken. Dann machte er sich auf den Weg durch Fife, um seinen Sohn nach Hause zu bringen. In seinem alten Vauxhall brauchte er für die dreißig Meilen fast zwei Stunden. Aber dann war er erleichtert, die Lichter in dem Haus zu sehen, das Sigmund mit seinen Freunden bewohnte. Er parkte den Wagen, nahm seine Vorräte und marschierte den Weg entlang.
Als er klopfte, kam zunächst niemand an die Tür. Er trat vorsichtig in den Schnee zurück und spähte in das hell erleuchtete Küchenfenster. Die Küche war leer. Er hämmerte ans Fenster und rief: »Sigmund! Mach auf, ich bin’s, dein Vater.«
Da hörte er polternde Schritte auf der Treppe, dann ging die Tür auf, und sein gut aussehender Sohn hieß ihn breit grinsend und mit weit geöffneten Armen willkommen. »Dad«, sagte er und trat mit bloßen Füßen in den Schneematsch, um seinen Vater zu umarmen. »Ich hatte nicht erwartet, dich zu sehen.«
»Alex hat angerufen. Ich wollte nicht, dass du allein bist.
Deshalb bin ich dich abholen gekommen.« Karel drückte seinen Sohn an sich, während die Angst wie ein Schmetterling in seiner Brust flatterte. Liebe ist doch etwas Schreckliches, dachte er.
Mondo saß im Schneidersitz auf seinem Bett, seinen Platten-spieler in Reichweite. Immer wieder hörte er seine persönliche Melodie »Shine on, You Crazy Diamond«. Die auf-und abschwebenden Tonfolgen der Gitarren, der tief empfundene Schmerz von Roger Waters’ Stimme, die elegischen Töne des Synthesizers, das weiche Saxophon bildeten die perfekte Musik, der man sich schwelgend hingeben konnte. Und schwelgen war genau das, was Mondo wollte. Er war seiner Mutter entkommen, die ihn mit ihrer Sorge fast erdrückte, sobald er erklärt hatte, was passiert war. Es war eine Weile ganz nett gewesen, sich in den gewohnten Kokon von Fürsorglichkeit einspinnen zu lassen.
Aber allmählich erstickte er fast daran und hatte sich damit entschuldigt, allein sein zu müssen. Diese Greta-Garbo-Taktik des
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