Echo gluecklicher Tage - Roman
aus Leim, Leder und Pfeifentabak.
»Papa? Was machst du da? Es ist stockdunkel«, rief sie, aber noch während sie das sagte, überlegte sie, ob vielleicht etwas auf ihn heruntergefallen war und ihn bewusstlos geschlagen hatte. Voller Panik rannte sie zurück in den Laden, um eine Gaslampe zu entzünden. Noch bevor die Flamme groß genug war, um die Glashülle zu beleuchten und den Laden in ein goldenes Licht zu tauchen, stand sie wieder im Lagerraum.
Eine Sekunde oder zwei dachte sie, es sei ein riesiger Sack voll Leder, der vor dem Fenster des Lagerraums hing, doch als das Gaslicht heller wurde, erkannte sie, dass es kein Sack war, sondern ihr Vater.
Er hing an einem der Haken an der Decke, ein Seil um den Hals.
Sie schrie unbewusst und wich entsetzt zurück. Sein Kopf hing schlaff zur Seite, seine Augen waren aus dem Kopf getreten, und sein Mund war zu einem stummen Schrei weit aufgerissen. Er sah aus wie eine grässliche Riesenpuppe.
Jetzt war klar, was sie vorhin für Geräusche gehört hatten. Als er den Stuhl, auf dem er stand, unter sich weggetreten hatte, waren eine Kiste mit Lederresten, eine Dose mit Schuhcreme und Flaschen mit Lederfärbemittel umgefallen.
Es war Anfang Mai, und erst vor ein paar Tagen war Beth auf dem Weg zur Bücherei wütend darüber gewesen, dass ihr Vater ihr nicht erlaubte, sich eine Arbeit zu suchen. Sie hatte die Schule im vergangenen Jahr beendet, aber er bestand darauf, dass die Töchter »vornehmer Leute« zu Hause blieben und ihren Müttern halfen, bis sie heirateten.
Sam, ihr ein Jahr älterer Bruder, war ebenfalls wütend, weil er bei seinem Vater in die Lehre gehen musste. Eigentlich wollte Sam Seemann, Hafenarbeiter, Schweißer oder irgendetwas anderes werden, bei dem er zusammen mit anderen Männern draußen im Freien sein konnte.
Aber Papa hatte dann immer auf das Schild über der Tür gedeutet, auf dem stand: »Bolton und Sohn, Stiefel- und Schuhmacher«, und erwartet, dass Sam genauso stolz auf das »Sohn« war wie er selbst damals, als sein Vater das Schild angefertigt hatte.
Doch wie frustrierend es auch gewesen war, dass ihr Leben vorgezeichnet schien, sowohl Beth als auch Sam verstanden die Gründe ihres Vaters. Seine Eltern waren 1847 aus Irland nach Liverpool geflohen, um dem langsamen Verhungern während der Kartoffel-Hungersnot zu entgehen. Jahrelang lebten sie in einem nasskalten Keller in Maiden’s Green, einem der vielen berüchtigten, heruntergekommenen Slumviertel, die es in der Stadt im Überfluss gab. Frank, der Vater von Sam und Beth, war dort ein Jahr später geboren worden, und seine früheste Kindheitserinnerung war, dass sein Vater mit seinem kleinen Handkarren in den reicheren Vierteln von Liverpool von Tür zu Tür ging, um nach Schuhen und Stiefeln zu fragen, die er flicken konnte, und dass seine Mutter jeden Tag aus dem Haus ging, um als Wäscherin zu arbeiten.
Als Frank sieben war, half er beiden Eltern, indem er für seinen Vater Stiefel abholte und auslieferte und für seine Mutter die Mangel drehte. Selbst wenn er hungrig und müde war und fror, wurde ihm eingebläut, dass harte Arbeit der einzige Weg aus der Armut sei, bis sie schließlich genug Geld für einen eigenen kleinen Schusterladen zusammenhatten.
Alice, Sams und Beths Mutter, hatte eine ebenso harte Kindheit gehabt, denn sie war als Baby ausgesetzt worden und in einem Waisenhaus aufgewachsen. Mit zwölf musste sie als Küchenmagd arbeiten, und die Geschichten von der anstrengenden Arbeit und der Grausamkeit der Köche und Haushälterinnen, die sie erzählte, sorgten bei Beth für Albträume.
Frank war dreiundzwanzig, als er die sechzehnjährige Alice kennenlernte. Zu diesem Zeitpunkt hatten er und seine Eltern ihr Ziel bereits erreicht und besaßen einen kleinen Laden mit zwei kleinen Zimmern darüber. Alice erzählte oft mit einem Lächeln, dass ihr Hochzeitstag der glücklichste Tag in ihrem Leben gewesen war, weil Frank sie bei seinen Eltern einziehen ließ. Sie musste immer noch genauso hart arbeiten, aber es machte ihr nichts aus, denn jetzt war das Ziel ein noch größerer Laden, wo ihr Schwiegervater und ihr Mann eigene Schuhe anfertigen konnten, anstatt nur alte zu reparieren.
Die harte Arbeit zahlte sich schließlich aus und brachte sie in die Church Street mit zwei Stockwerken über dem Laden, wo sowohl Sam als auch Beth geboren wurden. Beth konnte sich nicht an ihre Großmutter erinnern, denn sie war noch ein Baby gewesen, als sie starb, aber sie hatte
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