Echo gluecklicher Tage - Roman
nicht, dass ihre Mutter gehofft hatte, es würde sie von der Geige weglocken, einem Instrument, das sie »gewöhnlich« fand.
Obwohl Beth diese Einstellung ihrer Mutter zu ihrer geliebten Geige oft verletzte, war sie sehr froh, als Miss Clarkson ihre Klavierlehrerin wurde. Sie mochte zwar eine dreißigjährige alte Jungfer mit grauem Haar sein, die auf einem Auge schielte, aber sie war eine inspirierende Frau. Sie brachte Beth nicht nur das Notenlesen und das Klavierspielen bei, sondern führte sie auch in eine ganz neue Welt der Bücher, der Musik und der Ideen ein.
Fünf Jahre lang war Miss Clarkson ihre Verbündete, Freundin, Vertraute und Lehrerin gewesen. Sie liebte es, Beth sowohl beim Geige- als auch beim Klavierspielen zuzuhören, sie brachte Bücher mit, von denen sie fand, dass Beth sie lesen sollte, sie brachte ihr alle möglichen Arten von Musik bei und nahm sie manchmal zu Konzerten mit. Doch am besten gefiel Beth an ihr, dass sie nicht so engstirnig war wie ihre Mutter. Miss Clarkson war überzeugt davon, dass Frauen die gleichen Rechte haben sollten wie Männer, sei es bei Wahlen, bei der Ausbildung oder bei der Wahl ihres Berufes.
Beth wünschte, Miss Clarkson wäre noch in Liverpool, weil sie die einzige Person war, die ihr und Sam vielleicht hätte helfen können zu verstehen, warum ihr Vater etwas so Schreckliches getan hatte. Aber sie war nach Amerika ausgewandert, weil sie das Gefühl hatte, in England an der Scheinheiligkeit, dem Klassensystem und den fehlenden Möglichkeiten für Frauen zu ersticken.
»Ich werde dich vermissen, Beth«, hatte sie beim Abschied mit einem resignierten Lächeln gesagt. »Nicht nur, weil du meine talentierteste Schülerin warst, sondern weil du einen wachen Verstand, ein mutiges Herz und unendlich viel Enthusiasmus hast. Versprich mir, dass du nicht den erstbesten Mann heiratest, der um deine Hand anhält, nur um ein eigenes Heim zu haben. Die Ehe wird von den meisten als heiliger Stand betrachtet, aber das ist sie nicht, wenn du dir den falschen Mann aussuchst. Und gib die Musik nicht auf, denn sie macht dich fröhlich und gibt dir die Freiheit des Ausdrucks, die ein Mädchen wie du braucht.«
Beth stellte fest, dass Miss Clarkson recht hatte, was die Musik anging. Sie brachte sie an einen Ort, wo die Ermahnungen ihrer Mutter, ihre Pflichten im Haushalt zu erledigen, sie nicht erreichen konnten, eine Welt, wo Spaß, Freiheit und Begeisterung nicht missbilligt wurden.
Leider wusste sie, dass ihre Mutter das niemals verstanden hätte. Zwar hatte sie bei den Nachbarn immer mit dem Talent ihrer Tochter angegeben, aber sie hörte nicht wirklich zu, wenn Beth Klavier spielte, und die Geige lehnte sie ab. Ihr Vater hatte zugehört und nichts lieber getan, als sonntagabends in der Stube zu sitzen und ihrem Klavierspiel zu lauschen – am liebsten Chopin, doch er hatte sich auch gefreut, wenn sie beliebte Tanzlieder spielte. Selbst für ihn war die Geige jedoch ein leichter Stein des Anstoßes gewesen, vielleicht weil sie ihn an seine Kindheit erinnerte und weil er Angst hatte, dass die wilden irischen Jigs, die sein Vater Beth beigebracht hatte, sie in schlechte Gesellschaft bringen würden.
Als sie Sam die Treppe hinaufkommen hörte, fing Beth wieder an zu nähen. Sie hörte, wie er nach ihrer Mutter in ihrem Zimmer neben der Küche sah, und ein paar Minuten später kam er in die Stube.
Er sah blass und erschöpft aus und runzelte sorgenvoll die Stirn. »Der Leichenbeschauer gibt Papas Leiche morgen frei«, sagte er müde. »Er hat nichts gefunden, was erklären würde, wieso er das getan hat – er war nicht krank. Aber zumindest können wir ihn morgen beerdigen.«
»Hast du es Mama gesagt?«, fragte Beth.
Sam nickte niedergeschlagen. »Sie weint immer noch. Ich glaube nicht, dass sie jemals damit aufhören wird.«
»Vielleicht tut sie es nach der Beerdigung«, sagte Beth mit mehr Optimismus, als sie empfand. »Ich muss ihr Kleid bald abstecken. Ich hoffe, sie macht nicht wieder eine Szene.«
»Ich habe draußen Mrs Craven getroffen. Sie sagte, dass sie später vorbeikommen und versuchen wird, mit ihr zu sprechen; vielleicht solltest du die Gelegenheit nutzen, um das Kleid abzustecken. Wie schlecht es Mama auch geht, sie wird nicht wollen, dass die Nachbarn mitbekommen, dass sie alles uns überlässt.«
Beth hörte die Bitterkeit in seiner Stimme. Sie stand auf und legte die Arme um ihn. Er war fast jeden Tag vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung im
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