Echt zauberhaft
seit
einer ganzen Weile strebte Lord Hong nicht mehr nach Perfektion, weil
er sie längst in irgendeinem Verlies an die Wand genagelt hatte.
Lord Hong war sechsundzwanzig Jahre alt, schlank und attraktiv. Er
trug eine kleine Brille mit runden Gläsern. Wenn man die Leute bat, ihn
zu beschreiben, bekam man Worte wie »abgebrüht« und »aalglatt« zu
hören.* Mit erbarmungslosem Fleiß, kompromißloser Konzentration
aller geistigen Kräfte und sechs sorgfältig arrangierten Todesfällen war er zum Oberhaupt der einflußreichsten Familie im Achatenen Reich aufgestiegen. Was die sechs Toten betraf… Als letzter starb Lord Hongs Va-
ter, und zwar voller Freude darüber, daß sein Sohn eine alte Familientra-
dition fortsetzte. Die altehrwürdigen Familien hielten ihre Vorfahren
* Und auch den Satz: »Er ist ein Mistkerl, den man besser nicht verärgern sollte.
Das habe ich natürlich nie gesagt.«
sehr in Ehren und fanden nichts dabei, die Anzahl der Ahnen vorzeitig
zu erhöhen.
Und nun kam der schwarze Drachen mit den beiden großen Augen im
Sturzflug vom Himmel. Lord Hong hatte den Winkel berechnet – per-
fekt. Die mit Leim und Glassplittern beschichtete Schnur schnitt durch
einige andere. Die Drachen der Rivalen tanzten hilflos.
Das Publikum applaudierte höflich. Die meisten Leute hielten es für
klug, Lord Hong Applaus zu spenden.
Er reichte die Schnur einem Diener, nickte den anderen Drachenflie-
gern kurz zu und schritt zu seinem Zelt.
Drinnen nahm er Platz und wandte sich an den Besucher. »Nun?«
»Wir haben die Nachricht geschickt«, hieß es. »Niemand hat uns gese-
hen.«
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Lord Hong. »Zwanzig Personen sahen
euch. Wächtern fäl t es sehr schwer, ungerührt geradeaus zu sehen und
nichts zu bemerken, wenn Leute laut wie ein vorrückendes Heer umher-
kriechen und sich immer wieder zuflüstern, leise zu sein. Offen gesagt,
fehlt euch das revolutionäre Etwas. Was ist mit deiner Hand passiert?«
»Der Albatros hat hineingebissen.«
Lord Hong lächelte. Er dachte daran, daß der Vogel den Besucher viel-
leicht mit einer Sardelle verwechselt hatte, und das aus gutem Grund.
Seine Augen hatten gewisse Ähnlichkeit mit denen eines Fisches.
»Ich verstehe nicht, o Lord«, sagte der Besucher, dessen Namen Zwei
Feuerkraut lautete.
»Gut.«
»Sie glauben an den Großen Zaubberer, und du möchtest, daß er hier-herkommt?«
»Ja, natürlich. Ich habe… Mitarbeiter in…« Er versuchte, die fremden
Silben richtig auszusprechen. »…Ankh Moor Pork. Der sogenannte
Große Zaubberer existiert tatsächlich. Allerdings genießt er den zweifel-
haften Ruf, inkompetent, feige und völlig ohne Rückgrat zu sein. Ihm
fehlen al e Eigenschaften eines gefährlichen Gegners. Sol die Rote Ar-
mee ruhig ihren Anführer bekommen. Bestimmt… hebt es ihre Moral.«
Lord Hong lächelte erneut. »Das ist Politik«, betonte er.
»Ah.«
»Geh jetzt.«
Lord Hong griff nach einem Buch, als der Besucher gegangen war. Ei-
gentlich war es kein richtiges Buch. Es bestand aus einzelnen, mit Schnü-
ren zusammengebundenen Blättern mit handgeschriebenem Text.
Er hatte es schon oft gelesen, und es amüsierte ihn noch immer.
Hauptsächlich deshalb, weil sich der Autor bei so vielen Dingen irrte.
Wenn er jetzt eine Seite zu Ende gelesen hatte, riß er das Blatt aus dem
Bündel und faltete es mit großer Sorgfalt zu einer Chrysantheme.
»Großer Zauberer«, sagte er. »Und ob. Wirklich groß.«
Rincewind erwachte. Er spürte saubere Laken, und es ertönte kein
»Durchsucht seine Taschen«, was er für einen vielversprechenden An-
fang hielt.
Er hielt die Augen geschlossen. Für den Fal , daß jemand in der Nähe
weilte und ihm das Leben schwermachen wol te, sobald er wach wurde.
Die Stimmen älterer Männer erklangen.
»Niemand von euch versteht, worum es geht. Er überlebt, Ihr habt von
seinen vielen Abenteuern erzählt, und der interessanteste Punkt ist, daß
er noch lebt.«
»Was soll das heißen? Er hat Dutzende von Narben!«
»Genau das meine ich, Dekan. Übrigens hat er die meisten am Rücken.
Er läßt Schwierigkeiten hinter sich zurück. Irgendwo Dort Oben gibt es
jemanden, der ihm ein wohlwol endes Lächeln schenkt.«
Rincewind zuckte innerlich zusammen. Er hatte immer geahnt, daß es
Irgendwo Dort Oben jemanden gab, der etwas mit ihm anstel te. Ein
wohlwol endes Lächeln war ihm in diesem Zusammenhang nie in den
Sinn gekommen.
»Er ist nicht
Weitere Kostenlose Bücher