Echtzeit
Feuerwerkskörper wurden in die Luft geschossen und Nina zuckte erschrocken zusammen. Die ersten Takte von Deuce zogen durch ihren Körper und Lollis wildes Gezerre an ihrem Shirt tat sein Übriges, sodass sie sich letztendlich von Tom löste.
»Ey, Alter, das ist so geil!«, brüllte Lolli und sein Kopf zuckte rhythmisch zu den harten Gitarrensounds. »Nina, Mann, wir müssen weiter vor!«
Hektisch zog er an ihrem Arm, doch sie deutete nur zu Tom, dessen Hand sie noch immer festhielt.
Lolli verdrehte genervt die Augen. »Komm schon! Ihr seht euch doch wieder und dein alter Herr wird es dir nicht verzeihen, wenn du dich nicht wenigstens in die Nähe der Bühne wagst.«
Weiterhin zog er vehement an ihrem Arm und es tat ihr schon weh, sodass sie nachgeben musste. Toms Hand rutschte aus ihrer und sie wurde von Lolli in die Menge gezerrt. Suchend wand sie den Kopf nach hinten und hielt nach Tom Ausschau, aber alles, was sie sah, waren fremde Gesichter, die wild im flackernden Licht zuckten.
»Lolli!«, schrie sie hysterisch und riss sich endlich los. Mühsam bahnte sie sich den Weg zurück durch das tobende Publikum. Das war bei ihren geringen Körpermaßen gar nicht so einfach. Nach und nach verlor sie die Orientierung und die Kraft, sich weiter an verschwitzten Menschen vorbei zu drücken. KISS spielte inzwischen schon den fünften Song, doch sie konnte Tom einfach nicht wiederfinden. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
Kapitel 4
31. Dezember 2001, Berlin, Toms Wohnung
Frisch geduscht tapste Tom mit nassen Füßen und nur mit einem Handtuch bekleidet über den Parkettboden in seiner Ein-Zimmer-Wohnung. An seiner Küchenzeile machte er sich daran, die Kaffeemaschine für eine besonders starke Variation des Gesöffs zu präparieren, denn er wollte wach und fit sein für den heutigen Abend.
Erst am Morgen war er mit der Band aus Düsseldorf zurückgekehrt, wo sie gestern noch einen ziemlich gelungenen Auftritt gehabt hatten. Und er freute sich darauf, heute auf der Silvesterfeier mal wieder richtig die Sau rauslassen zu können. Nach einer üblen Feiertagsfamilienüberdosis hatte er es wirklich dringend nötig. Seit er seinen Job hingeschmissen hatte, um mit den Jungs auf Tour zu gehen, zeigten seine Eltern ihm ihre Enttäuschung über alle Maßen. Dementsprechend beschaulich verlief auch sein Weihnachtsfest.
Wütend schmiss Tom den Filter in die Maschine und betätigte den Knopf. Er wollte diesen Ärger einfach schnell vergessen. Er schlürfte zu seinem Kleiderschrank und angelte – aus der für einen Junggesellen angemessenen Ordnung – frische Boxershorts. An Ort und Stelle ließ er das Frotteetuch von seinen Hüften fallen und schlüpfte in den schwarzen Baumwollstoff. Dann wickelte er langsam das Handtuch auf seinem Kopf auseinander und seine langen Haare fielen über die Schulter nach vorne auf seine Brust. Äußerst gewissenhaft trocknetet er seine Spitzen und arbeitete sich weiter an seiner langen Mähne nach oben. Seine letzte Freundin hatte sich über seine ausgiebige Haarpflege immer lustig gemacht. Sie empfand es schlichtweg als unmännlich, sich einmal in der Woche eine Kurpackung ins Haar zu schmieren. Schade eigentlich, denn sonst war sie sehr nett und ausgesprochen hübsch. Nur verhielt es sich am Ende wie immer.
Tom war sehr gerne verliebt. Er mochte dieses kribbelige Gefühl und konnte selten davon genug bekommen. Er genoss es, begehrt zu werden und seinerseits trug er seine aktuelle Eroberung auf Händen, verwöhnte sie und war bemüht, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Doch früher oder später kam immer der Tag, an dem seine Gefühle mit einem Mal verschwunden waren. Das Verliebtsein war vorbei und es zog ihn zur Nächsten, die ihm das wohlige Gefühl verschaffen konnte. Nie hielt er es länger als ein paar Wochen, manchmal auch Monate, mit ein und derselben aus.
Wie automatisiert zog es ihn zu dem großen Bilderrahmen, der auf seiner selbst lackierten, schwarzen Anbauwand stand. Es war eine Collage mit allen Bildern, die er und seine Kumpel bei Rock am Ring '97 geschossen hatten. Und mittendrin, fast gänzlich verdeckt, ein Bild von ihr: Nina. Sie saß auf seinem Schoß und hatte sich eng an ihn gekuschelt. Ein Freund hatte dieses Bild am letzten Festivaltag gemacht, kurz bevor sie aufgebrochen waren, um sich die letzten Auftritte anzusehen. Es war das einzige gemeinsame Bild mit ihr.
Nur ein paar Stunden später war sie nicht mehr bei ihm gewesen. Alle seine Freunde
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