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Ecstasy: Drei Romanzen mit chemischen Zusätzen (German Edition)

Ecstasy: Drei Romanzen mit chemischen Zusätzen (German Edition)

Titel: Ecstasy: Drei Romanzen mit chemischen Zusätzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvine Welsh
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Genugtuung über das Bild, das er den anderen bot: ein älterer Mann mit einer jungen Frau, einem reizenden Baby, gesund und wohlhabend. Als Dorfapotheker von Stoldorf gehörte Emmerich zudem zu den ersten Bürgern, und durch seine familiären Bindungenhatte er sich leichter in die Dorfgemeinschaft eingliedern können als jemand, dem der Vorteil eines solchen Hintergrunds fehlte. Emmerich war von Natur aus viel zu bescheiden, um mit seinem Glück zu prahlen, und daher nicht der Mensch, der sich Neider machte. Während seiner Zeit in seiner früheren Firma war das ein Nachteil, kleinere Lichter hatten allein dank ihrer Gabe, sich besser in Szene zu setzen, schneller Karriere gemacht. Hier in Stoldorf jedoch war diese Eigenschaft ein entschiedener Vorteil. Die Einheimischen respektierten diesen stillen, höflichen und fleißigen Mann und verehrten seine hübsche junge Frau und ihr gemeinsames Baby. Gunther Emmerich hatte also allen Grund, zufrieden zu sein, und trotzdem begleitete ihn stets ein vages fatalistisches Unbehagen; es war fast, als wisse er, dass ihm alles, was er besaß, eines Tages genommen werden konnte und vielleicht genommen werden würde. Gunther Emmerich hatte begriffen, wie fragil das Leben war.
    Brigitte Emmerich war, sofern das überhaupt ging, noch mehr mit sich und der Welt zufrieden als ihr Ehemann. Nach einer verkorksten Jugend mit Drogen- und schweren seelischen Problemen erschien ihr die Heirat mit dem alten Apotheker als die klügste Entscheidung ihres Lebens. Oft musste sie an ihre Zeit in München-Neuperlach denken, als sie Amphetamine konsumiert und verdealt hatte. Welche Ironie, dass sie einen Apotheker geheiratet hatte! Sie wusste, dass ihre Beziehung nicht auf Liebe aufgebaut war, aber zwischen ihnen bestand eine tiefe Zuneigung, die während der vier Jahre, die sie zusammen waren, gewachsen und durch die Geburt ihres Sohnes noch weiter gefestigt worden war.
    Die Bilderbuchidylle von Stoldorf war, wie einnehmend sie sich auch darstellte, ganz und gar oberflächlich: Wie diemeisten Orte hatte das Dorf mehrere Gesichter. Stoldorf lag in einer Region, die sich entlang der alten Ost-West-Grenze des Eisernen Vorhangs erstreckte und die bis vor Kurzem zu den unzugänglichsten in ganz Europa gehört hatte. Im Dunkel der Nacht ging vom Wald, der drohend das Dorf überschattete, eine düstere Aura aus, welche die uralten Mythen von dem Ungeheuer nährte, das in seinen Tiefen lauern sollte. Gunther Emmerich war ein religiöser Mensch, aber auch ein Mann der Wissenschaft. Er glaubte nicht daran, dass ein Ungeheuer durch den Wald schlich und die Dorfbewohner aus sicherer Entfernung belauerte– obwohl er manchmal das Gefühl hatte, dass er selbst belauert, bespitzelt und aufs Korn genommen würde. Gunther wusste mehr als genug über die Untaten, zu denen Menschen, und nicht Ungeheuer, fähig waren. Bayern hatte bei Entstehung und Aufstieg des Nationalsozialismus eine Schlüsselrolle gespielt. Viele der älteren Einwohner von Stoldorf hatten ihre Geheimnisse, und sie stellten nie zu viele Fragen über die Vergangenheit. Die örtlichen Gepflogenheiten kamen Gunther Emmerich sehr gelegen. Mit Geheimnissen kannte er sich aus.
    An einem kalten Morgen im Dezember hatte Brigitte ihren kleinen Sohn Dieter mit nach München genommen, um Weihnachtseinkäufe zu machen. Als guter Christ lehnte Gunther Emmerich die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes ab, doch er hatte Freude an der Feier und am Schenken. Da das Kind erst kurz vor dem letzten Weihnachtsfest zur Welt gekommen war, würde dies ihr erstes gemeinsames Weihnachten als richtige Familie werden. Im letzten Jahr hatte es Probleme gegeben. Nach der Geburt des Kindes bekam Brigitte Depressionen. Gunther hatte sie aufgebaut und inständig mit ihr gebetet. Das war ein festesBollwerk in ihrem Leben: Sie hatten sich kennengelernt, als sie beide in einer kirchlichen Einrichtung in München als freiwillige Helfer arbeiteten. Brigitte hatte sich schließlich wieder völlig gefangen und schwelgte nun in den Festvorbereitungen.
    Das alles änderte sich innerhalb weniger Minuten.
    Sie ließ das Kind nur für einen Moment vor einer Geschenkboutique in Münchens Fußgängerzone stehen, um schnell reinzuspringen und für Gunther eine Krawattennadel zu kaufen, die es ihr angetan hatte. Als sie herauskam, war das Kind mitsamt Buggy verschwunden: an deren Stelle nur entsetzliche Leere. Ein stechendes, eisiges Gefühl schoss von der Wurzel ihres Rückgrats hoch durch

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