Ed King
Gelben Seiten zwischen Lasertechnik und Lederwaren. »Ich helfe Kunden seit 1981, ihr Leben positiv zu verändern«, hieß es in einer Anzeige. Diane wählte die Nummer, aber es meldete sich ein Anrufbeantworter. Sie wählte eine andere Nummer und tat so, als interessierte sie sich für das Angebot, wollte sich aber zuvor informieren, was eine Lebensberatung koste. Deutlich weniger als ein Psychiater, aber auch deutlich mehr als ein Klempner. Weniger als ein Callgirl, aber mehr als ein Hundeausführer. Diane versuchte ihr Glück und ließ eine Visitenkarte drucken:
MUT ZUM LEBEN – PROFESSIONELLE LEBENSBERATUNG
Beruf? Beziehungen? Konflikte? Veränderungen?
Ich helfe Ihnen, Ihr Leben positiv zu gestalten.
Darunter standen ihr Name, ihre Telefonnummer und der Satz: Hilfe in allen Lebensfragen seit 1981 .
Mut zum Leben warf einige bescheidene Gewinne ab. Bellevue war voll von College-Absolventen, die anfangs nichts gegen eine Achtzig-Stunden-Woche hatten, inzwischen aber anderer Meinung waren. Es war voll von Technikfreaks mit Beziehungsproblemen. Es war voll von Leuten, die jung genug waren zu glauben, sie könnten einen Lebensberater gebrauchen. Innerhalb eines Monats zog Diane drei Klienten an Land. Da ihre Wohnung nicht vorzeigbar war, mietete sie ein Studio neben einem Einkaufszentrum, das ihr als Wohn- und Arbeitsstätte diente. Es bedeutete, auf einer Couch statt in einem Bett zu schlafen und jeden Morgen ihre privaten Dinge in einer Abstellkammer zu verstauen. Die Verwandlung ihrer Wohnung in eine Praxis dauerte zwanzig Minuten. Anschließend duschte sie und zog eine weiße Bluse und einen blauen Stewardessen-Rock an. Ihr englischer Akzent kam ihr gelegen, genau wie ihr Kurzhaarschnitt. Sie wirkte optimistisch und kompetent. Die Fachterminologie klang aus ihrem Mund überzeugend. Zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins hatte sie einen Stift und einen Terminplaner auf ihrem Schreibtisch liegen. »Haben Sie den Mut, sich neu zu erfinden«, ermunterte sie ihre Klienten. »Die Welt ist voller phantastischer Möglichkeiten.« Zwei ihrer drei Klienten brauchten genau diese Art der Unterstützung. Ihr dritter Klient hatte weder eine Ahnung, wie man seinen Alltag organisierte, noch wie man eine Frau ansprach. Er konnte nicht einmal sagen, welche Ziele er im Leben hatte. Diane glaubte nicht wirklich an Ziele, aber sie waren ein wichtiger Teil ihres Jobs und sie verkaufte sie den Leuten. Ihr vierter Klient war unentschlossen, ob er bei seinem gegenwärtigen Arbeitgeber kündigen und sich als Softwareentwickler selbstständig machen sollte. Und ihr fünfter Klient wusste nicht, wie er sein Arbeitspensum reduzieren konnte, und fühlte sich gefangen in einem langweiligen, aber einträglichen Job. Diane entwarf auf einem einfachen Notizblock Schaubilder und Listen für ihre Klienten, meist eine Viertelstunde vor dem Gesprächstermin. Wenn sie redete, hakte sie einzelne Stichpunkte mit einem Stift ab, und wenn sie zuhörte, gab sie ihrem Gegenüber das Gefühl, ihm genauer zuzuhören als je irgendwer sonst in seinem Leben. Sie hielt ununterbrochen Blickkontakt. Sie passte ihren Ausdruck in jedem Moment dem an, was gesagt wurde. Wenn die Dinge ins Stocken gerieten, sagte sie »Aha!« und machte sich eine Notiz. Indem sie einzelne Gegenstände auf ihrem Schreibtisch herumschob, vermitteltesie den Eindruck, Energie in ihre Klienten zu investieren und dafür das lächerlich hohe Honorar zu verdienen. Das war der Vorteil, sich in einer Gegend niederzulassen, wo viel Geld zur Verfügung stand, von dem sie etwas abschöpfen konnte.
Anderen Leuten zu sagen, wie sie ihr Leben einrichten sollten, gab einem ein Gefühl von Selbstbestätigung. Hier waren diese jungen Amerikaner mit jeder Menge Geld, und Diane, die Tochter einer britischen Hure, entschied darüber, mit welchen Vorsätzen sie ihren Tag begannen. Oft kam es ihr vor, als müssten sie es aufgrund der vielen Privilegien in ihrem Leben selbst besser wissen. Zu Beginn ihrer Beratungsgespräche hatte sie stets leichte klassische Musik im Hintergrund laufen, Prokofjew zum Beispiel. Ein fröhliches Allegro con brio oder eine flotte Gavotte . Sie bot ihren Klienten Mineralwasser aus einer Karaffe mit jeder Menge Zitronenscheiben an. Da das Fenster ihres Studios auf eine viel befahrene Straße hinausging, hängte sie ein Poster mit riesigen Redwood-Bäumen davor. Zwischen zwei Klienten versprühte sie Teebaumöl-Raumerfrischer und vergewisserte sich, dass die Kerze im Bad
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