Ed King
machte sich auf den Weg. Vor dem IMAX-Filmtheater stellte sie sich in eine Schlange mit zahlreichen Touristen, die das Aprilwetter hertrieb, das sogenannte »Frühlingswetter«, vor dem man sie gewarnt hatte, gab ihre Eintrittskarte einem Zwanzigjährigen, der aussah, als hätte er sich für eine Rolle in Star Trek kostümiert, und nahm vor der riesigen Leinwand Platz. Während der Aufführung nickte sie immer wieder für kurze Zeit ein. Das Bild war so groß, dass man gar nicht alles sehen konnte. Und wenn man hinsah, konnte einem davon schlecht werden. Schlimmer noch, sie hatte das Gefühl, der Sprecher des Films tadle sie für die bloße Tatsache ihrer Existenz. »Dies ist unsere Erde … ein Planet im Universum«, und dann folgte Vorwurf auf Vorwurf. Wer auch immer den Film zusammengeflickt hatte, wollte den Zuschauer dazu zwingen, aus dem Fenster eines Spaceshuttle auf die Erde zu sehen, um ihm die erdrückende Fülle menschlicher Fehler vor Augen zu führen. Diane ließ die Strafpredigt über sich ergehen und dachte: »Was wollt ihr von mir? Was soll ich tun? Ich atme Sauerstoff ein und gebe Kohlendioxid zurück. Grund genug, tot zu sein? Statt ein Schandfleck auf meinem eigenen Planeten?« Zuletzt waren die zweiundvierzig Minuten ökologischer Standpauke vorüber, und sie trat mit den anderen benommenen Zuschauern hinaus in den unvermindert heftigen Frühlingsregen.
Um auf ein Nachlassen des Regens zu warten, ging Diane ins Pacific Science Center, das an diesem Nachmittag vorwiegend von Müttern mit Kleinkindern besucht wurde. Die Ausstellungsräume waren vollgestopft mit Dingen, die als Wunderwerke angepriesen wurden – Hometrainer, die den Kalorienverbrauch anzeigten, eine sogenannte Schattenwand, ein Gyroskop, eine Echoröhre, eine Teslaspule, eine nachgebaute Dinosaurier-Fundstätte. Und siehe da, in einer Ecke von Gebäude drei entdeckte Diane ein längst überholtes, einsames Ausstellungsstück, das sie von ihrem Besuch auf der Weltausstellung von 1962 kannte: den protzigen Glaskasten zur Demonstration der Wahrscheinlichkeitsverteilung mit seinen Tausenden herabrieselnden Silberdollars, die den unseligen Walter Cousins so fasziniert hatten, während sie sich unausweichlich zu einem gleichmäßigen Hügel formten und eine Wahrheit illustrierten, die niemanden interessierte. Aus einiger Entfernung sah es aus wie eine Ameisenkolonie, aber von nahem, durch die trübe Glasscheibe betrachtet, war es Walters mathematisches Wunder, das man unbedingt gesehen haben musste. »Wie aufregend«, dachte Diane. »Ein Glaskasten voller Münzen. Walter war so ein Kindskopf.«
Ein anderer Besucher näherte sich dem Ausstellungsobjekt. Er war jung, gut aussehend und immerhin so vornehm, eine Cordhose, teure Schuhe, einen taillierten Wollpullover mit Strickkragen und Zopfmuster zu tragen. Sein Gesicht war so jugendlich, dass es Diane nicht nur an ihr eigenes Alter erinnerte, sondern auch daran, dass dessen Besitzer früher altern würde, als er dachte, wenn er sich überhaupt Gedanken über das Alter machte, so jung, wie er war. Es war ein junges, aber kein unschuldiges Gesicht; tatsächlich machte es einen müden und sorgenvollen Eindruck hinter einer zerbrechlichen stoischen Maske männlicher Selbstsicherheit. Gleichwohl besaß er glänzendes, dichtes Haar, einen glatten Teint, eine breite Stirn und ein energisches Kinn, also alle Attribute männlicher Schönheit. Angesichts seiner strahlenden Jugend und Schönheit überlegte Diane, ob sie noch genügend Charme und weibliche Magie besaß, um Eindruck auf ihn zu machen. Oder war das alles vorbei und ihre guten Zeiten lagen hinter ihr? Ihren Mut zusammennehmend, zupfte sie an ihrem knielangen, marineblauen Stewardessen-Rock, den sie an Wochentagen in Kombinationmit einer weißen Bluse trug, ihr schneidiges Mut-zum-Leben-Kostüm, und sagte: »Ich verstehe das nicht.«
Er war groß und kräftig – ein Bild von einem Mann. Sauber und gepflegt, mit schlanker Taille und kurz geschnittenen Fingernägeln. Er verschränkte seine Hände hinter dem Rücken, klopfte mit dem Schuh auf den Boden und sagte: »Was?«
Sie wusste aus dieser knappen Antwort, dass sie sich nicht mit ihm darüber verständigen würde, Mathematik sei langweilig. Also legte sie ihren Mantel von einem Arm auf den anderen, trat einen Schritt näher, als wollte sie die fallenden Münzen genauer studieren, und sagte mit leichtem englischem Akzent: »Ich begreife nicht, wozu das gut sein soll.«
»Ganz
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