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Ed King

Ed King

Titel: Ed King Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Guterson
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brannte. Wenn es klopfte, öffnete sie energisch die Tür, trat zur Seite und bat ihren Klienten mit der Geste eines Klavierlehrers herein, der ein Kind zum Unterricht empfängt. »Nehmen Sie Platz und wir fangen gleich an«, sagte sie. »Erzählen Sie mir von Ihrer Woche.« Zugleich drückte sie mit einer schwungvollen Bewegung die Stopptaste des Recorders, sodass ihr Klient dort weitermachen konnte, wo Prokofjew aufgehört hatte, während Diane ihre einstudierte Rolle als aktive Zuhörerin einnahm, sich Notizen machte, zwischendurch nachfragte oder zustimmend nickte. Stets fand sie eine Gelegenheit, das Wort »Fortschritt« einzuflechten, allerdings war es genauso wichtig, Zweifel zu sähen, weil sie ihre Kunden nicht mit der Vorstellung entlassen wollte, sie brauchten nicht mehr wiederzukommen. Um ihre Klientel zu halten, beendete sie jede Sitzung mit dem Hinweis: »Falls ein Notfall eintritt, bin ich werkstags von neun bis fünf zu erreichen.« Notfälle gab es häufiger, als sie gedacht hätte. Oft rief einer ihrer Klienten an, weil er in einer verzwickten Lage war und nicht mehr weiterwusste. »Fangen Sie am Anfang an«, sagte Diane ihnen oder irgendetwas in der Art, den Ton des Fernsehers ausgeschaltet. »Was sind IhreZiele? Fangen Sie bei Ihren Zielen an. Ich habe Ihre Unterlagen hier vor mir liegen und schaue auf Ihre Ziele, die wir gemeinsam aufgestellt haben. Hat sich etwas daran geändert? Sollen wir sie noch einmal durchgehen?«
    Clubs Verrat bekam nun etwas Positives. Der Ganove hatte Diane Dinge beigebracht, die sie jetzt einsetzen konnte. Nicht dass seine Lektionen siebzigtausend Dollar wert gewesen wären. So weit wollte sie nicht gehen. Aber immerhin haute sie die Leute übers Ohr und brauchte dazu noch nicht einmal von ihrem Stuhl aufzustehen. Ohne einen Finger zu krümmen. Sie konnte ihre Rechnungen bezahlen, ohne weiter Hunde in der Gegend herumzuführen – sie brauchte einfach nur dazusitzen und eine aufmunternde, professionell wirkende Show abzuziehen. Lebensberatung war ein hübscher Schwindel, das einzige Problem war, dass man damit nicht wirklich weiterkam. Sicher, sie konnte sich einen besseren Fernseher und ein paar anständige Sachen für ihre Garderobe kaufen, aber das konnte doch nicht alles gewesen sein. Immer wieder fragte sie sich: »Ist es das, was ich vom Rest meines Lebens zu erwarten habe?« Je nach Befinden fügte sie hinzu: »Mein Leben in einem winzigen Studio neben einem Einkaufszentrum in Bellevue zu fristen?« »Planlose Nerds bei Laune zu halten?« » Dallas und Saturday Night Live in der Glotze anzuschauen?« »Darauf zu sparen, mit Emily zum Fleetwood-Mac-Konzert im Kingdome zu gehen?« Diane war zweiundvierzig und hatte eine Entzündung unter dem linken Fußballen, die vermutlich operiert werden musste. Eine Medaille konnte sie sich lediglich dafür verleihen, dass sie in ihrer Lektüre große Fortschritte gemacht hatte: Sidney Sheldon lag hinter ihr. Sie las jetzt ernsthafte Sachen, die im Regal unter »Literatur« einsortiert waren, meistens von Autoren, die längst tot waren.
    Häufig ging sie allein ins Kino, stöberte in Antiquariaten oder besuchte Teestuben. Sie trank einen Latte bei Starbucks, vertieft in den Roman eines längst verstorbenen Autors, und hoffte, irgendwen auf sich aufmerksam zu machen. Am Bellevue Square gab es einen überdachten Food Court, wo lauter Frauen wie sie saßen, nicht mehr jung, aber auch noch keine Großmütter, elegant gekleidet und unterwegs zum Shoppen und zu einem erfrischenden Smoothie mit lauter gesunden Zutaten. Auch Diane trank Smoothies. Beim Friseur legte sie einen Coupon vor und bekam zwanzig Prozent Rabatt. Sie probierte bei Sharper Image Massagesessel aus. Sie ging in Kosmetikgeschäfte und versuchte die Verkäuferinnen dazu zu bringen, ihr Alter zu erraten. Der einzige Luxus, den sie sich gönnte, war eine Antifaltencreme, die damit warb, einen zehn Jahre jünger zu machen. Mit zweiundvierzig sah sie aus wie zweiunddreißig, aber das reichte noch nicht.
    Sie verabredete sich mit Emily zu einem Smoothie am Bellevue Square. Emily war inzwischen auf Outdoor-Bekleidung umgeschwenkt, die ihr aufgrund ihrer Größe gut stand. Sie hatte einen sorgfältig verarbeiteten kleinen Rucksack auf dem Rücken und trug leichte Wanderschuhe. Außerdem eine Fleecejacke mit Kapuze und Zwei-Wege-Reißverschluss. »Ich glaube, ich weiß, was du brauchst«, erklärte sie Diane. »Du brauchst ein Date.«
    »Na, was auch sonst«, sagte

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