Ed King
DES AUSGESETZTEN SÄUGLINGS. Die Nachricht enthielt keinerlei Hinweise auf Zeugen oder irgendwelche Spuren. Das Kind befand sich in der Obhut der Boys and Girls Aid Society of Oregon, einer städtischen Hilfseinrichtung. Diane riss den Artikel vorsichtig heraus,faltete ihn in der Mitte und legte ihn auf den Nachttisch. Sie war erleichtert zu wissen, dass Baby Doe gut untergebracht war.
Zwei Tage später stand sie an einem sonnigen Morgen neben ihrem geöffneten Postfach und riss, halb benommen vor Freude, Walters erste Geldsendung auf. Sie zählte die frisch gedruckten Scheine und faltete sie zu einem Bündel, bemerkte mit Interesse, aber ohne Enttäuschung, das Fehlen jeglicher Notiz oder eines Briefes und ging dann die Straße hinunter, um bei einer Filiale der Portland Trust and Savings Bank ein Depotfach einzurichten. Am nächsten Tag mietete sie ein möbliertes Zimmer in Sullivan’s Gulch, das feucht und scheußlich, aber spottbillig war und in mancherlei Hinsicht nicht schlechter als die Wohnung, in der sie aufgewachsen war. Fest entschlossen, nicht mehr Geld als nötig für Miete auszugeben, teilte sie sich ein Bad mit anderen Mietern und kochte Suppe und Haferbrei auf einer Herdplatte. Der Vermieter verlangte weder Bürgschaften noch eine Kaution, und ihr Postfach war vom Haus aus zu Fuß zu erreichen. Bis zum Lloyd Center war es ein anständiger Marsch, aber das Wetter war gut, die Tage lang, und sie hatte plötzlich alle Zeit der Welt, um etwa den ganzen Vormittag über im Bett zu lesen, wenn ihr danach war, oder den Nachmittag im Kino zu verbringen, Restaurants zu besuchen oder einkaufen zu gehen. Nachdem sie sich eingelebt hatte, schrieb sie an Club und teilte ihm ihre Postadresse mit den Worten mit: »Schreibe mir an die neue Adresse – ich bin ein bisschen weiter südwärts gelandet.« Einen Monat später antwortete er mit einer alten Postkarte aus Liverpool, auf der in Sepiafarben das Canning Dock abgebildet war. »Dürres Huhn«, stand darauf zu lesen, »hier alles in Ordnung. Werde Elektriker im Fernstudium. Hätte nichts dagegen, als Schreiner auf einem Schiff anzuheuern. Schiffsmaschinist wäre auch nicht schlecht, da hat man’s warm und gemütlich.« In einem zweiten Absatz fragte er: »Warum prügeln die ihre Neger zusammen? Mit Viehknüppeln und Schläuchen? Gott schütze die Königin, Liebes! – Club.«
Das Lloyd Center war sehr amerikanisch und phantastisch. An einem Informationsstand zählte sie einhundert Geschäfte und las auf einer Tafel, dass es das größte Einkaufszentrum Amerikas sei. Es gab eine Eislaufbahn mit einer Galerie für die Zuschauer. Lipman’s verkaufte elegante Damenbekleidung, genau wie Meier & Frank. Diane verbrachte Stunden damit, die Auslagen durchzukämmen, die Schaufenster mit modischer Kleidung zu betrachten und Dinge in winzigen Umkleidekabinen anzuprobieren. Nichts davon passte ihr, obwohl sie nach der Schwangerschaft noch nicht einmal wieder ihre alte Figur zurückgewonnen hatte, aber sie liebte es dennoch, die Kleider, Röcke und Blusen an ihren Haken rhythmisch durch die Hände gleiten zu lassen, einzelne Exemplare herauszuziehen, sie kritisch zu betrachten, das Preisschild zu studieren, die Qualität des Stoffes zu prüfen, das Etikett zu lesen, sie zurück in die Reihe zu stecken und weiter am Ständer entlangzugehen. Wenn sie lange genug vor einem Regal verharrte, trat eine Verkäuferin auf sie zu und schlug vor, in der Teenager-Abteilung nach einer passenden Größe zu suchen. Es gab jede Menge eng anliegender Oberteile, Abendhandschuhe, Seersuckeranzüge und Jacqueline Kennedys Pillbox-Hut in Dutzenden Variationen, aber alles schien Diane unpassend. Zuletzt sah sie das, wonach sie suchte, als sie an der Spielzeugabteilung von J. C. Penney vorbeiging: eine blonde Barbie mit Pferdeschwanz in einem weinroten ärmellosen Samttop und einem weißen Satinrock, komplett mit glänzenden Lippen, lackierten Fingernägeln und weinroten Schuhen mit Keilabsätzen.
Drei Wochen später saß Diane, verkleidet als blonde Barbie mit Pferdeschwanz, im Restaurant im zehnten Stock von Lipman’s, verzehrte eine Thunfischkasserolle und entwarf mit einem Bleistift auf einer Serviette eine Visitenkarte. Eine Woche darauf, nachdem sie einhundert frisch gedruckte Karten in einem Schreibwarengeschäft abgeholt hatte, kaufte sie eine Handtasche, Ohrringe, Halskette, Armband und eine Uhr. Alles von ausgesuchter Qualität, genau wie ihre Frisur – glänzende Haare und
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