Ed King
Mülleimer. An trübsinnigen Tagen fuhr sie manchmal an der Tudor-Villa in Eastmoreland vorbei, wo sie ihr Kind abgestellt hatte, ganz langsam, um noch einmal das untröstliche Gefühl zu spüren, das sie empfundenhatte, als sie ihn vor der Türschwelle abgesetzt hatte. Manchmal parkte sie auch vor dem Haus der Boys and Girls Society of Oregon – eigentlich waren es drei recht hübsche Häuser auf dem Southeast Powell Boulevard –, nur um etwas mit ihrem Sohn zu teilen: das Gebäude, von dem man durch das Tor einen Blick erhaschen konnte, die Bäume, Gärten, umherhuschenden Eichhörnchen und fallenden Blätter, mit denen er über die Jahre immer vertrauter werden würde. Vielleicht aber auch nicht, denn inzwischen mochte er bereits adoptiert worden sein. Sie hoffte, wenn es so wäre, hätte er ein gutes Zuhause gefunden. Sie hoffte, er sei bei einer richtigen Familie gelandet, in der die Mutter jeden Abend am Herd stand und der Vater ihn zu Bett brachte und ihm Geschichten vorlas. Die Bilder eines friedlichen Zuhauses trösteten Diane. Sie war eine glühende Verfechterin bürgerlicher Konventionen und aller gängigen Vorstellungen einer gesunden Erziehung. Ebenso gefiel ihr der Gedanke, dass zumindest ein Burroughs dem armseligen Familienschicksal entkommen könnte. Ein Hurra auf Baby Doe, wie mit einem Katapult herausgeschleudert aus dem unerträglichen englischen Elend. Er würde emporsteigen, so hoffte und betete sie inständig, auf seiner glanzvollen amerikanischen Lebensleiter.
Im Sommer 1970 begleitete Candy Dark einen Kunden zu einer Soiree im Riverside Golf and Country Club. Auf der Fahrt in einem Mietwagen erklärte er ihr, wer sie dort erwarte – kurz gesagt, reiche Leute. Er sagte, sie müsse »ihren Teil beitragen«. Außerdem könne er sie unmöglich als Candy Dark vorstellen, und sie solle sich doch bitte einen schlichteren Namen ausdenken. »Wie wär’s mit Diane?«, schlug sie vor. »Wäre ›Diane‹ schlicht genug?« Und so wurde sie an dem Abend Männern mit Kummerbund und Frauen in Sommer-Gala als »Diane Davis« vorgestellt. Wie sich zeigte, war ihr Kunde laut und aufdringlich und fragte ständig die anderen Gäste, indem er auf Diane zeigte: »Ist sie nicht goldig?« Je mehr er trank, desto hemmungsloser und unerträglicher wurde er. Er legte einen Arm um ihre Taille und knabberte an ihrem Ohrläppchen. Ab und an unterbrach er sein wildes Gestikulieren und zwickte ihr unter dem Pferdeschwanz in den Hals. Zuletzt verlor er sie in seiner Trunkenheit aus den Augen, und Diane setztesich mit einem dekorierten Cocktail irgendwohin und wartete auf das Ende des Abends.
Sie sah einer Gruppe ausgelassener Tänzer zu, als ein großer, nicht schlecht aussehender junger Mann auf sie zutrat, sich ihr als Jim Long vorstellte und fragte, ob er sich zu ihr setzen und dem närrischen Treiben zusehen dürfe. Diane wies auf einen freien Stuhl neben sich.
Jim Long hatte dunkles, lockiges Haar, ein kantiges Profil und einen hervorstehenden Adamsapfel. Er war siebenundzwanzig. Er war der vierte von fünf Brüdern und hatte zwei Schwestern, eine älter und eine jünger als er. Im letzten Monat war er zum stellvertretenden Marketingleiter von Long Alpine Industries, Inc. ernannt worden, der Firma, die sein Vater nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet hatte und die auf Abfahrt-Skier spezialisiert war, obwohl sie auch Langlauf-, Touren- und Telemark-Skier herstellten. Sie hatten eine Fabrik in der Gegend, in der soeben die Produktion von Fiberglas-Skiern angelaufen war, nachdem sie zweiundzwanzig Jahre lang laminiertes Holz benutzt hatten. Die Firma Long befand sich in einer Phase des Umbruchs, des Risikos und der Investitionen, die »wie ein offenes Buch« vor ihnen lag.
Diane räumte ein, dass Skifahren in England nicht besonders populär sei, wohingegen sie immer schon eine große Schwäche dafür gehabt habe, besonders nach dem großartigen Auftritt der Goitschel-Schwestern bei den Olympischen Spielen in Innsbruck. Sie erwähnte auch den gut aussehenden Franzosen Jean-Claude Killy, den sie aus Zeitschriften kannte, betonte aber seinen Namen auf der falschen Silbe, damit Jim sie nicht für versnobt hielt. Jim erwiderte, er habe Kill- ii 67 beim Weltcuprennen in Berchtesgaden getroffen und nachher lange mit »diesem aufgeblasenen Playboy« über Werbung für Longs neue Fiberglas-Skier verhandelt. Doch zuletzt sei alles im Sand verlaufen, weil ein Konkurrent »den Froschfresser« weggeschnappt habe, indem er
Weitere Kostenlose Bücher