Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ed King

Ed King

Titel: Ed King Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Guterson
Vom Netzwerk:
genau wie Florence Nightingale eine »Dame mit dem Licht« zu sein.
    In Dianes Fall war die Dame mit dem Licht Schwester Carol, die Dianes Flehen nachgab, noch eine letzte Stunde mit ihrem Sohn verbringen zu dürfen, bevor vier Stunden später die Adoptiveltern von Baby Doe eintrafen. Eine einzige Stunde, dann wäre Diane bereit und konnte damit beginnen, den Verlust zu verarbeiten. Eine einzige Stunde, ihr Baby zu halten und sich sein Gesicht einzuprägen, seinen Geruch, seine Haut; eine einzige Stunde, die ihr dabei helfen würde, sich mit dem Geschehenen abzufinden. Was sollte Carol gegen eine solche Bitte einwenden? Dianes Wunsch schadete niemandem. Sie ging zur Säuglingsabteilung, hob Baby Doe aus dem Bett, brachte ihn zu Diane und ließ sie mit ihm allein, nachdem sie ihren Kummer und ihre Zuversicht zum Ausdruck gebracht hatte.
    Diane hatte alles minutiös geplant. Am Vortag hatte sie Walter gebeten, den kleineren Koffer zu ihrem Wagen zu bringen und neben dem großen im Kofferraum zu verstauen. Sie hatte gerade noch so viele Sachen zurückbehalten, dass sie eine halbe Einkaufstasche füllten. Nun musste sie nichts weiter tun, als die Zeit mit ihrem Sohn zu genießen, bis es auf dem Flur ruhiger wurde. Diane redete ihm zärtlich zu. Sie drückte ihre Nase gegen seine und sagte sanft: »Na, du.« Sie betrachtete ihn von nahem und wiegte ihn. Ihr Sohn kam mehr nach ihrem Halbbruder John – die gleichen militärischen Brauen, Nase und Kinn –, aber die grünen Augen hatte er von ihrem Halbbruder Club. Kam er nun mehr nach Club oder John? Sie hoffte, er wäre mehr wie Club, denn John war auf seine Art schwerfällig, und Club war charismatisch und abenteuerlustig. Wem ähnelte er noch? Hatte er etwas von ihr? Diane hielt ihn vorsichtig mit ausgestreckten Armen von sich, um seine Züge besser studieren zu können. Sie beschloss, dass er später ein breites Kreuz haben werde. Seine Geburtsgröße lag an der Grenze zum oberen Viertel, also würde er groß und bestimmt auch – schließlich war sie seine Mutter – sehr, sehr hübsch werden. Bei alldem vergaß sie nicht den entscheidenden Punkt: Sie hatte niemals vorgehabt, mit sechzehn unverheiratet Mutter zu werden, erst recht nicht von einem Kind, dessen Vater Walter Cousins war. Dennoch knöpfte sie die Blusefür ihren Sohn auf und legte ihn an ihre Brustwarze an. Sie gab ihm beide Brüste und hielt ihn zärtlich im Arm. Nachdem sie ihre Bluse wieder zugeknöpft und einen Mantel übergezogen hatte, packte sie einen gefalteten Pullover in die halbvolle Einkaufstasche, legte den Säugling vorsichtig darauf, drückte die Tasche an ihre Brust und ging hinaus zum Parkplatz.
    Nach drei Meilen fuhr Diane auf den Parkplatz eines chinesischen Restaurants. Sie vergewisserte sich, dass die Luft rein war, öffnete den Kofferraum und leerte einen der Koffer. Dann breitete sie ihren Mantel darin aus, stellte den Koffer aufgeklappt auf den Beifahrersitz und legte ihr Baby hinein. Von seinem periodischen Schreien begleitet, fuhr sie in Richtung Süden, weil im Norden Kanada lag und man an der Grenze vielleicht ihren Führerschein sehen wollte, während im Osten und Westen die Berge beziehungsweise die Küste lagen. Also nach Süden, in einem stetigen, mäßigen Tempo. Sie unterbrach ihre Fahrt einmal, um zu tanken, einmal, um Windeln, Nadeln, einen Baumwollwaschlappen und Babypulver zu kaufen, und einmal, um ein Fläschchen und einen Viertelliter Milch zu besorgen, die sie nicht anders aufwärmen konnte, als sie vor die Wagenheizung zu stellen. Ansonsten hielt Diane sich streng an die amerikanischen Verkehrsregeln. Wenn ihr Kind schrie, fühlte sie sich unsicher und schlecht gerüstet. Zweimal fuhr sie an den Straßenrand und schob dem Säugling den Gumminippel des Fläschchens in den Mund, zweimal wechselte sie die Windeln und warf die alten ins Gebüsch, und zweimal klopfte sie ihm mit der flachen Hand sanft auf den Rücken, damit er sein Bäuerchen machte, in der Hoffnung, dass dies die richtige Technik war. Zu schade, dachte sie, dass sie in ihrem Jahr als Au-pair keine Erfahrungen mit Kleinkindern gesammelt hatte. Sie musste tun, was sie für richtig hielt, und das Beste hoffen. Sie redete mit ihrem Baby, drehte das Radio auf und strich ihm während der Fahrt mit der Hand über den Kopf, immer in Sorge, an den Straßenrand gewinkt zu werden, nicht nur, weil sie ohne Führerschein fuhr, sondern auch weil sie keine Geburtsurkunde vorlegen konnte, nur einen Pass mit

Weitere Kostenlose Bücher