Ed King
abgelaufenem Visum. Immerhin hatte sie 250 Dollar und einen Plan.
Am Nachmittag stieg sie im schäbigen Teil von Portland, Oregon, ineinem Motel ab und zahlte bar für ein Zimmer, das voller Spinnen war und nach Zigarettenqualm stank. Nachdem sie ihr verkommenes Quartier bezogen hatte, schnitt sie die beiden Erkennungsbändchen des Krankenhauses ab, ihr eigenes und das des Jungen, wechselte erneut die Windeln, gab dem Kind die Flasche, sah fern, duschte, klopfte ihrem Sohn zum x-ten Mal auf den Rücken, bis er weinend und spuckend sein Bäuerchen machte, und schlief, wenn er schlief. Am Morgen kaufte sie mit verquollenen Augen zwei Muffins und einen Becher Kakao, die sie im Wagen verzehrte. Bis in den Nachmittag hinein fuhr sie ihre Runden durch Portland, den Säugling notgedrungen im Koffer neben sich festgeschnallt, der sich mit klagenden Lauten, unguten Gerüchen und lautem Geschrei bemerkbar machte. Portland schien kleiner als Seattle zu sein, dafür aber grüner und wohlhabender. Es gab jede Menge imposanter viktorianischer Häuser in Vierteln, deren Straßen von großen Bäumen beschattet waren, aber auch zahllose gepflegte Bungalows wie das der Cousins in Seattle. Diane inspizierte die einzelnen Stadtbezirke nach ihren Vorzügen, bevor sie in Sullivan’s Gulch ein Postfach eröffnete, nicht weit vom Lloyd Center, einem neuen Einkaufszentrum. Zuerst wollte sie sich im Lloyd Center umsehen, doch dann ging sie mit ihrem Kind auf dem Arm in einen armselig wirkenden Secondhandladen und kaufte einen Weidenkorb, eine hellblaue Babydecke, einen Strampler und winzige Schuhe aus Cordsamt. Das Llyod Center musste warten.
Am Abend parkte Diane ihren Wagen im Wohnviertel Eastmoreland unter einer Ulme, von wo aus sie einen guten Blick die Straße hinab hatte. Anderthalb Stunden lang beobachtete sie die Straße nach vorn und nach hinten durch ihren Rückspiegel. Menschen kamen und gingen, Wagen hielten am Straßenrand oder fuhren weg, Lichter gingen an, Lichter gingen aus, Spaziergänger führten Hunde an der Leine, eine Katze schlich aufmerksam umher. Gegen halb zehn entschied Diane sich für das drittletzte Haus auf der Ostseite des Blocks, eine große Tudor-Villa aus rotem Backstein, die von einer hohen Hecke umgeben war. Jetzt kam der entscheidende und gefährlichste Teil des gesamten Unternehmens. Sie stieg aus, sah sich um und atmete einmal tief durch. Dann öffnete sie die Beifahrertür und nahm den Weidenkorb mit ihrem schlafenden Sohn, der in seine blaue Decke gewickelt und warm in seinem Strampler und den Babyschuhen eingepackt war. So unauffällig wie möglich, aber zugleich entschlossen lief sie den Bürgersteig entlang, während das Licht der Straßenlaternen in regelmäßigen Abständen das makellose Gesicht ihres Sohnes erleuchtete. Und es war makellos. Warum sah er nur so bezaubernd aus? Sie blickte abwechselnd auf ihn und auf das Haus. Im Fenster zur Straße flackerte ein purpurfarbenes Licht; die Bewohner saßen vor dem Fernseher. Bewohner einer Tudor-Villa, die fernsahen, würden gewiss das Richtige tun. »Also gut«, dachte Diane, »das ist es«, und dann liefen ihr plötzlich die Tränen, und sie stieg die Stufen hoch und stellte ihren Sohn vor der Eingangstür ab.
Es brach ihr fast das Herz. Aber als sie im Wagen davonfuhr, hatte sie sich nach wenigen Minuten gefangen. Die Leute vor dem Fernseher, anständige Leute, die in einem schönen Haus in einem schönen Wohnviertel lebten, würden Baby Doe auf seinem nächsten Schritt ins Leben begleiten. Er müsste nur so schreien, wie er es bisher getan hatte, und sie würden ihm geben, was er brauchte. Damit war sie jetzt frei und konnte tun und lassen, was sie wollte. Als Erstes würde sie diesen Fatzke Walter anrufen und ihn ordentlich bluten lassen. Diane freute sich auf den Anruf am Montagmorgen. Später jedoch, allein in ihrem schäbigen Bett, hatte sie eine lange, unruhige Nacht, in der sie so wenig Schlaf fand wie in der Nacht zuvor, wenn auch aus anderen Gründen. Diesmal war es nicht das Schreien ihres Kindes, das sie wach hielt, sondern sein Fehlen.
Am folgenden Nachmittag saß Diane in ihrem Motelzimmer und studierte die Wohnungsanzeigen im Journal, Walter am Haken, eine Tüte Pralinen neben sich, den Fernseher eingeschaltet und ein Kissen hinter ihren Kopf geklemmt. Sie las die Comics, löste das Kreuzworträtsel und überflog die Ratgeberkolumne. In der unteren Hälfte der Lokalmeldungen entdeckte sie die Schlagzeile: POLIZEI SUCHT ELTERN
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