Edelherb: Roman (German Edition)
geschnitzt, und Gott hatte mir nie mehr auferlegt, als ich ertragen konnte. Dann dankte ich ihm auch dafür.
Ich erhob mich. Nachdem ich eine kleine Spende in den Korb getan hatte, verließ ich die Kirche und ging in nordwestliche Richtung, um den Mietvertrag zu unterzeichnen.
Am zweiten Freitag im Juni wollte ich in der neuen Lokalität eine kleine Feier geben, um meinen Freunden zu präsentieren, was ich im nächsten Jahr tun würde. Doch bevor ich irgendjemanden einlud, musste ich Win von der Beteiligung seines Vaters erzählen.
In jenem Sommer ließ der Bürgermeister alte Filme im Bryant Park vorführen, um den Einwohnern zu zeigen, dass New York gar nicht so schrecklich war. Win wollte dorthin gehen, so wie reiche, privilegierte Menschen eben gerne Dinge machen, die gefährlich werden können. Ich sagte, ich würde mitkommen, doch wie zu erwarten war, hatte ich meine Machete dabei.
Bei der Vorführung wurden wir zwar nicht angepöbelt, für ein Freizeitevent war relativ viel Polizei anwesend, dennoch konnte ich dem Film kaum folgen, weil ich immer wieder daran denken musste, was ich Win sagen wollte.
Auf dem Heimweg redete er die ganze Zeit über den Film. »Die Stelle, als das Mädchen mit dem Pferd durchs Wasser reitet, die war unglaublich. Das möchte ich auch mal machen.«
»Ja«, sagte ich.
Win sah mich an. »Annie, hast du überhaupt zugeguckt?«
»Ich … ich muss dir etwas sagen.« Ich erzählte ihm von dem Geschäft, dem von mir unterschriebenen Mietvertrag und nannte schließlich den Namen des Anwalts, den ich engagiert hatte. »Ich veranstalte nächste Woche eine Art Party, sozusagen als Auftakt. Ich würde mich echt freuen, wenn du kommen würdest.«
Einen ganzen Häuserblock lang sagte Win kein Wort. Dann sprach er. »Anya, du musst das nicht machen. Nur weil du einen Mietvertrag unterschrieben hast, musst du das noch lange nicht durchziehen.«
»Doch, das muss ich. Verstehst du das nicht? Es ist eine Möglichkeit, meinen Vater zu reetablieren. Es ist eine Möglichkeit, hier in dieser Stadt etwas zu verändern. Wenn ich das nicht tue, werde ich immer im Verborgenen leben müssen.«
»Du glaubst, du müsstest das tun, aber das stimmt nicht.« Er griff nach meiner Hand und drehte mich mit Schwung zu sich herum. »Hast du irgendeine Vorstellung davon, wie schwer das werden wird?«
»Ja, habe ich. Aber ich muss es trotzdem machen, Win.«
»Warum?«, fragte er mit einem schärferen Ton, als ich je bei ihm gehört hatte. »Dein Cousin hat Balanchine Chocolate übernommen. Du bist draußen!«
»Ich werde nie draußen sein. Ich bin die Tochter meines Vaters. Und wenn ich das jetzt nicht durchziehe, werde ich es immer bereuen.«
»Du bist nicht die Tochter deines Vaters. Ich bin nicht der Sohn meines Vaters.«
»Bin ich doch, Win.« Ich sagte, wenn ich das leugnete, würde ich mich in meinem Wesenskern verleugnen. Ich könnte weder meinen Namen noch mein Herz ändern. Doch er hörte mir nicht zu.
»Warum musstest du ausgerechnet meinen Vater nehmen?«, fragte er mit leiser Stimme, die beängstigender war als sein lautes Schimpfen.
Ich versuchte, es ihm zu erklären, doch er schüttelte nur den Kopf.
»Ich wusste ja, dass du eigensinnig bist, aber für einen Dummkopf habe ich dich nie gehalten.«
»Ich habe meine Gründe, Win.«
Er drängte mich gegen eine Mauer. »Ich bin dir gegenüber immer loyal gewesen. Wenn du das machst, bin ich nicht mehr auf deiner Seite. Dann sind wir nur noch Freunde, mehr nicht. Ich werde so weit wie möglich auf Abstand zu dir gehen. Ich werde nicht dabei zusehen, wie du dich selbst zerstörst.«
Ich schüttelte den Kopf. Meine Wangen waren feucht, ich musste wohl weinen. »Ich kann nicht anders, Win.«
»Bedeute ich dir denn so wenig?«
»Nein … Aber ich kann nicht jemand anders sein als die, die ich bin.«
Win sah mich mit einem Ausdruck von Abscheu an. »Du weißt, dass er dich letztes Jahr vergiftet hat, oder?«
Win hatte Bescheid gewusst!
»Er hat es mir erzählt.«
»Du weißt genau, was für ein Mann er ist, und trotzdem gehst du los und machst das! Wenn er dir hilft, dann nur, weil er dabei irgendeinen Vorteil für sich im Blick hat.«
»Das weiß ich, Win. Er benutzt mich, und ich benutze ihn.«
»Dann habt ihr euch ja verdient.« Er schüttelte den Kopf. »Wir sind fertig«, sagte er.
»Tu das nicht, Win. Nicht jetzt. Denk noch mal drüber nach.« So peinlich es ist – ich fiel vor ihm auf die Knie und rang die Hände.
Er sagte,
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