Edelherb: Roman (German Edition)
darüber müsse er nicht nachdenken. »Ich werde nicht so werden wie meine Mutter. Ich werde nicht still vor mich hin leiden.«
Dann ging er. Ich stand auf und lief ihm nach, stolperte aber und schürfte mir die Knie am Pflaster auf. Als ich mich wiederaufrichtete, war ein Bus gekommen, und Win war eingestiegen.
Kaum war ich zu Hause, rief ich Win an. »Er ist schon ins Bett gegangen«, sagte Mrs. Delacroix kühl. »Möchtest du stattdessen vielleicht mit Charlie sprechen?«
Ich sagte, das sei nicht nötig. Ich sähe ihren Mann ja ständig.
So ging es mehrere Tage lang, immer mit Ausreden, die der jeweiligen Tageszeit entsprachen, bis Mrs. Delacroix schließlich sagte, Win sei Freunde in Albany besuchen gefahren.
Vielleicht hätte ich in den nächsten Zug nach Albany steigen sollen, aber ich konnte einfach nicht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. In Wirklichkeit hatte Win wohl recht. Bei der Ausübung dessen, was ich gerade tat, hatte ich seine Gefühle ignoriert, und ich konnte ihm keinen Grund dafür nennen. Oder anders ausgedrückt: Wenn ich es ihm erklärte, vermutete ich, würde ihm die Antwort nicht gefallen: Win war unerschütterlich, loyal und lieb gewesen, uneingeschränkt positiv, aber das reichte nicht. Mein Wunsch, auf dem Feld Erfolg zu haben, wo mein Vater versagt hatte, war wohl oder übel größer als die Liebe zu Win.
Daher folgte ich meinem Freund nicht nach Albany. Ich beschäftigte mich damit, mein Geschäft aufzubauen und die Vorbereitungen für die Präsentationsparty am Freitag abzuschließen.
Das Telefon klingelte. Unbewusst hoffte ich, es sei Win, doch er war es nicht.
»Freust du dich nicht, von deinem alten Freund zu hören?«, fragte Theo.
Einige Tage zuvor hatte ich ihm eine Nachricht geschickt und um Ratschläge von den Abuelas gebeten, was man als Ersatz für die Schokolade in den eisgekühlten Kakao tun könnte, den ich auf der Party servieren wollte.
»Schokolade ist durch nichts zu ersetzen! Warum willst du so einen Frevel begehen?«
Ich erzählte ihm von meiner Geschäftsidee. »Wir machen eine Präsentationsparty, aber mein Geschäftspartner hält es für unklug, etwas Illegales auszuschenken, weil die Leitlinie des Ganzen ist, im gesetzlichen Rahmen zu arbeiten.«
»Aha. Nun, dann könntest du es vielleicht mit Johannisbrotpulver versuchen. Das ist zwar nur ein schwacher Ersatz, aber …«
Ich bedankte mich.
»Sag mir Bescheid, wenn ich dir irgendwie helfen kann«, bot Theo an.
»Wie wär’s mit guten Konditionen für Granja-Mañana-Kakao?«, schlug ich vor. »Ich brauche nämlich einen Lieferanten.«
»Die besten Konditionen, die ich habe«, entgegnete Theo. »Ich bin stolz auf dich, Anya Barnum-Balanchine. Du scheinst mit allem deinen Frieden gemacht zu haben.«
»
Gracias,
Theo. Weißt du, du bist der einzige Mensch, der das zu mir sagt.«
»Ich sage das, weil ich dich kenne, Anya. Tief im Innern sind wir verwandte Seelen.« Er überlegte. »Wie geht es deinem Freund?«
»Er ist immer noch sauer auf mich«, erwiderte ich.
»Er kommt darüber hinweg.«
»Vielleicht.« Aber diesmal war ich mir da nicht so sicher.
Wir redeten noch ein bisschen länger, und Theo versprach, mich besuchen zu kommen, sobald er könne. Ich fragte, ob man denn in Granja Mañana auf ihn verzichten könne, und er antwortete, dass Luna seit seiner Verletzung eine viel größere Hilfe sei. »Ich muss dir wahrscheinlich dankbar sein, dass auf mich geschossen wurde.«
»Leider bist du nicht der erste Junge, der das zu mir sagt.«
Der Freitag kam und mit ihm die Party. Ich hatte immer noch nichts von Win gehört. Tagsüber ließ ich den Raum putzen und stellte an den Wänden Samoware für den eisgekühlten Kakao auf. Ich hatte meinen gesamten Bekanntenkreis eingeladen, aber niemanden von der
Semja
, und Charles Delacroix hatte ebenfalls Leute hergebeten, darunter potentielle Investoren.
Scarlet und Gable gehörten zu den ersten Gästen. Sie war mittlerweile mindestens im zwanzigsten Monat schwanger, und ich hatte nicht genau gewusst, ob sie überhaupt kommen würde. Als ich ihr die Nachricht schickte, hatte sie jedoch innerhalb von Sekunden geantwortet: »Freue mich sehr, dass ich einen Grund habe, das Haus zu verlassen, freue mich auch sehr über die Einladung! PS : Bedeutet das, wir sind nicht mehr sauer aufeinander? Ich bin so einsam ohne dich.« Als Scarlet hereinkam, nahm sie mich in die Arme.
»Seid ihr schon verheiratet?«, fragte ich die beiden.
»Wir
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